Mai 2023

Gräser der Nacht
Patrick Modiano


Roman
Carl Hanser Verlag, 176 Seiten

Ersterscheinung 2012



Wie komme ich zu einem Roman eines französischen Schriftstellers, wo mich Frankreich mit seiner zwar wohlklingenden, mir aber stets fremd gebliebenen Sprache und Mentalität nicht sonderlich anzieht? Vor vielen Jahren bin ich auf Patrick Modianos Roman "Die kleine Bijou" gestossen, ein schmales Buch, das mich von Erzählstil und Atmosphäre sehr angesprochen hat, und das ich mir damals aufgrund einer Buchbesprechung in einer Literatursendung kaufte. Seither ist mir Patrick Modiano ein Begriff. Vor einiger Zeit fand ich dann in einem Gebrauchtbuchladen ein neuwertiges Exemplar von "Gräser der Nacht" und auch von "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Patrick Modiano hat zahlreiche Romane verfasst und erhielt 2014 den Nobelpreis für Literatur, was ich zum Zeitpunkt der Anschaffung dieser Bücher aber noch nicht wusste, sondern erst auf der Umschlagrückseite meiner Ausgabe des Carl Hanser Verlags lesen konnte.



Der Nobelpreis wurde Modiano für "die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besetzung sichtbar gemacht hat" verliehen. So ist es auf Wikipedia nachzulesen. Immer drehen sich Modianos Geschichten um die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart, um das Vermögen oder Unvermögen, sich zu erinnern, und um das Vergessen. Nicht selten verschmelzen bei ihm diese beiden Zeitdimensionen. "Ich konnte nicht mehr richtig zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden", wie es an einer Stelle in "Gräser der Nacht" heisst. Und immer ist Paris Schauplatz, wird dem Leser diese Stadt in eindrücklicher, melancholischer, oft trister Atmosphäre nähergebracht, natürlich aus einer Zeit, die irgendwo in der Erinnerung des Erzählers verborgen liegt.


Man muss bewusst aufnahmefähig bleiben, um Modianos mentalen Suchpfaden folgen zu können. Man muss sich einlassen wollen auf ein Puzzlespiel von Erinnerungsgräsern, die sich zu einem Strauss formen und am Ende doch kein Ganzes ergeben. Man muss für Paris bereit sein. Vergangenen Oktober waren meine Frau und ich mit Freunden in Paris; den Stadtplan habe ich aufbewahrt. Er war mir bei der Lektüre eine grosse Hilfe. Mit dem offenen Plan neben dem Lesesessel und der Lupe auf dem Tischchen habe ich mich an die Lektüre von "Gräser der Nacht" gemacht, denn Modiano geizt nicht mit Beschreibungen und Bezeichnungen von Strassen und Begegnungsorten, Avenues und Rues, Boulevards und Pariser Stadtvierteln. Ein Paris unkundiger Leser wird an diesem Roman vielleicht keinen Gefallen finden.


Zudem musste ich die ersten Seiten dreimal von vorne beginnen, da ich abends vor dem zu Bett gehen nicht mehr konzentriert genug war, wie sich beim Weiterlesen herausstellte. Man sollte nichts auslassen oder überlesen, obwohl es Leserstimmen gibt, die besagen, dass man in dieser Geschichte irgendwo zu lesen beginnen könnte, weil sie keiner Chronologie folgt. Meiner Meinung nach verliert man dann nur den Faden. Man taucht ein in das anonyme Leben in einer Stadt, in einen dunklen Pulk von Erinnerungen, die Modiano in wehmütiger, aber auch dunkler Atmosphäre präsentiert. Wäre "Gräser der Nacht" ein Film, könnte man ihn zweifelsohne als "film noir" bezeichnen.
Es ist nicht einfach, eine Geschichte zusammenzufassen, wenn sie keiner chronologischen Struktur folgt. Immer wieder springt der Autor auf der Zeitachse vor und zurück, einmal befinden wir uns in den Sechzigerjahren, dann wieder in der Gegenwart, wo Jean, der Ich-Erzähler der Geschichte, sich aus der Distanz eines halben Jahrhunderts an eine Etappe seiner Jugendzeit im Pariser Viertel Montparnasse zurückzuerinnern versucht, wo er eine junge Frau kennen lernt, die sich Dannie nennt und mit der er drei Monate seines Lebens verbringt. Jean ist ein verträumter Mensch, geht keiner Arbeit nach, führt ein schwarzes Notizbuch, in das er Namen, Adressen, Kleinanzeigen, Telefonnummern, Beobachtungen, niederschreibt; Dinge, die andere als belanglos erachten würden. So auch Aufzeichnungen über historische Personen aus dem 19. Jahrhundert wie Tristan Corbière, Charles Baudelaire, Jeanne Duval oder die Baronin Blanche. Weil er über diese Figuren einen Roman schreiben will. So vermischen sich in seinem Notizbuch historische Aufzeichnungen mit Beobachtungen aus seinem Alltag.

Ich habe einen der Sätze ihrer Rolle in mein schwarzes Notizbuch geschrieben (...) Hätte mich jemand gefragt, warum, ich glaube nicht, dass ich in der Lage gewesen wäre, eine klare Antwort zu geben. Aber heute verstehe ich es besser: Ich brauchte Orientierungspunkte, Namen von Metrostationen, Hausnummern, Stammbäume von Hunden, als fürchtete ich, die Leute und Dinge könnten von einem Augenblick auf den anderen unsichtbar werden oder verschwinden, und ich müsste wenigstens einen Beweis ihrer Existenz aufbewahren. (S. 104)
Schon bald, als Jean auch Bekanntschaft mit gewissen anderen Personen macht - Aghamouri, Paul Chastagnier, Gérard Marciano, Duwelz und Rochard, genannt Georges, die alle im Unic Hôtel im Quartier Latin logieren - muss er feststellen, dass Dannie ein undurchsichtiges Leben führt. Aghamouri scheint mehrere Adressen zu besitzen, Jean lernt ihn in der Cafeteria der Cité Universitaire kennen, wo dieser ein Zimmer im marokkanischen Pavillon bewohnt. Aufgrund seines Alters und Erscheinungsbildes scheint Aghamouri aber kein Student zu sein, ausserdem soll er eine Frau haben, die er selten sieht. Aghamouri ist es, der Jean irgendwann erzählt, dass er Dannie mit den anderen Personen zusammengebracht hat, damit diese ihr falsche Papiere besorgen können, denn sie sei in eine üble Geschichte verstrickt, und Jean solle sich am besten von ihr trennen und von den anderen fernhalten.


Doch Jean interessieren diese anderen Personen nicht. Für ihn zählt allein, dass er mit Dannie die Quais entlangschlendern kann. In der Nacht spazieren sie durch die Strassen von Paris, und einmal verreisen sie auch in ein Landhaus in einem Dorf, dessen Name Jean sich nicht aufgeschrieben hat, von dem er später nicht mehr weiss, auf welchen Wegen sie dorthin gelangt sind, und das sie in einer Nacht- und Nebelaktion auch wieder verlassen. Jeans Zusammensein mit Dannie scheint von Schatten begleitet zu sein, oft kommt er sich vor wie auf der Flucht, als würde Dannie sich vor irgendwelchen Personen verstecken oder vor ihnen davonlaufen. Doch scheint es ihm nicht wichtig genug, ihre Undurchsichtigkeit zu durchleuchten.

Die Abende waren lang, wenn ich im Viertel blieb und auf sie wartete, aber das kam mir ganz normal vor. Mir taten Leute leid, die unzählige Verabredungen in ihre Terminkalender eintragen mussten, manche davon zwei Monate im voraus. Für sie war alles festgelegt, und sie würden nie auf irgendwen warten. Sie würden nie erfahren, dass die Zeit wogt, sich weitet, dann wieder stillsteht und einem allmählich jenes Gefühl von Ferien und Unendlichkeit gibt, das andere in Drogen suchen, ich aber ganz einfach im Warten fand.(S. 103)
Wo der Leser sich auf Jeans Erinnerungsachse gerade befindet, ist nicht immer leicht auszumachen. Schon zu Beginn des Buches erfahren wir, dass Jean zu diesen zwielichtigen Personen von einem gewissen Inspektor Langlais zweimal verhört wird, wegen eines ungelösten Todesfalls, dessen Spur zu einer mysteriösen Abendgesellschaft führt. Zu diesem Zeitpunkt ist Dannie aber schon verschwunden, und alle Erinnerungen mit ihr und den anderen Personen liegen zeitlich vor diesem Ereignis des Verhörs. Von Langlais erfährt Jean auch, dass Dannie verschiedene Namen zu benutzen scheint, so wird er gefragt, ob ihm der Name Mireille Sampierry geläufig sei, was Jean verneint. Zwanzig Jahre nach diesem Verhör erhält Jean von dem bereits pensionierten Langlais die Akte über diesen Fall geschenkt. Mithilfe dieser Akte will Jean nun einige Anhaltspunkte in seinem Notizbuch ergänzen. So ist "Gräser der Nacht" letzlich ein Monolog, eine Verschachtelung von Erlebnissen, ein Tagebuch von Erinnerungsfetzen, eine Aufarbeitung der Vergangenheit in einem Paris, das in einer bedrückenden und doch faszinierenden Stimmung geschildert wird. 

Neulich, in der Nacht, fuhr ich im Auto durch Paris, und ich war gerührt über diese Lichter und diese Schatten, über die verschiedenen Arten von Laternen und Kandelabern, bei denen ich das Gefühl hatte, sie würden mir, entlang einer Avenue oder an einer Strassenecke, Zeichen schicken. Es war genau das Gefühl, das du verspürst, wenn du lange ein erleuchtetes Fenster betrachtest: ein Gefühl von Anwesenheit und von Abwesenheit zugleich. Hinter der Glasscheibe ist das Zimmer leer, doch jemand hat die Lampe angelassen. Für mich hat es Gegenwart oder Vergangenheit niemals gegeben. Alles verschmilzt, wie in dem leeren Zimmer, wo eine Lampe brennt, jede Nacht. (S. 53)
Leider bleiben mir die Figuren irgendwie fremd. Bei Dannie ist das in gewisser Weise nachvollziebar, da sie auch Jean selbst ein Rätsel bleibt, eine Frau mit Geheimnissen, denen er nie auf die Spur zu kommen gedenkt. Sehr oft bietet sich ihm im Zusammensein mit Dannie einfach nicht der richtige Zeitpunkt an, Fragen zu stellen und tiefer zu graben; zu gleichgültig und distanziert wuselt Jean sich durch seine Jugendzeit. Ich denke jedoch, dass es Modianos Absicht war, nicht den Personen Tiefe zu verleihen, sondern der Atmosphäre eine Dichte, die den Leser in ein Paris der verlorenen Seelen und Erinnerungen hineinzieht.


Die einzige Figur, die vor meinem geistigen Auge etwas mehr Konturen erhält, ist Aghamouri, mit dem Jean irgendwann ein doch ernsteres Gespräch führt, während sie durch die Strassen von Paris schlendern, und von dem Jean einiges über Dannie erfährt und auch über Aghamouri selbst. Dass dieser den marokkanischen Spezialeinheiten angehörte, erfährt Jean erst aus der Akte, die er Jahre später von Langlais ausgehändigt bekommt. Einmal dachte ich, dass hoffentlich nicht zu viel Autobiografie in dieser Geschichte steckt, denn mir schien es etwas fragwürdig, warum Jean sich denn so gleichgültig auf diese bedrohliche Reise voller Fragezeichen einlässt. Auf Wikipedia konnte ich jedoch nachlesen, dass in "Gräser der Nacht" Patrick Modianos Alter Ego mehr zu Wort kommen soll als in seinen anderen Romanen.

Viele Jahre später, eines Nachmittags, als ich in der Nähe des Val-de-Grâce umherstreifte, habe ich versucht, dieses Hotel wiederzufinden. Ich hatte in dem schwarzen Buch weder seinen Namen notiert noch die Adresse, so wie wir vermeiden, allzu persönliche Details unseres Lebens aufzuschreiben, aus Angst, sie könnten, einmal zu Papier gebracht, uns nicht mehr gehören.
(S. 33)
Das Buch ist heute im Carl Hanser Verlag als gebundene Ausgabe, als Hörbuch und als eBook erhältlich. Der Deutsche Taschenbuch Verlag bietet das Buch im Taschenbuchformat an.

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