Januar 2023

Ungefähre Landschaft
Peter Stamm


Roman
Arche Verlag, 187 Seiten

Ersterscheinung 2001



Ich hätte die Aufnahmen des Buches für diesen Beitrag gerne in einer verschneiten Winterlandschaft gemacht, passend zur Geschichte, aber leider hat es bei uns zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen keinen Schnee. Deshalb habe ich Holzscheite als Hintergrund gewählt, was auch ganz gut passt. Das Buch des Arche Verlags hat, wie ich finde, eine sehr angenehme Grösse, liegt gut in der Hand, auch der Umfang der Geschichte und das Schriftbild der Seiten ist mir sehr sympathisch. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte mich diese Buchgestaltung damals sogar für das Layout meines eigenen ersten Werks inspiriert.



Wie bereits mit "Des Nachts", "Die neuen Leiden des jungen W." und "Die Taube" mache ich mich mit "Ungefähre Landschaft" an den zweiten Durchgang eines Buches, das ich schon vor Jahren gelesen habe. Peter Stamm gehört zu meinen Lieblingsautoren, und ich habe alle seine Romane im Regal stehen. Was mich an seinem Schreibstil fasziniert, ist die Leichtigkeit, die Sparsamkeit, mit der er, ohne ein Wort zuviel, über Menschen und deren Begebenheiten schreibt, über Schicksale, über das alltägliche Leben, über gewöhnliche Dinge. Peter Hamm, ein vor drei Jahren verstorbener, deutscher Lyriker, Schriftsteller und Literaturkritiker, schrieb über ihn: "Da gibt es kein schiefes Bild, keinen falschen Vergleich, kein Adjektiv als bloss schmückendes Attribut, kein Wort zuviel oder zuwenig. Peter Stamms Prosa ist bei aller vorsätzlichen Schmucklosigkeit vollkommen geschmeidig – also vollkommen." In Peter Stamms Geschichten passiert nicht viel, im Aussen zumindest nicht, muss auch nicht. Weniger ist mehr. Stamm erzählt von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins, vom ganz gewöhnlichen Alltag ganz gewöhnlicher Personen, weshalb sich wohl mancher Leser in seinen Figuren wiederfinden kann.

Sie lief zum Leuchturm, blieb über Nacht und kam am nächsten Tag zurück. Die Mutter schaute dann nach dem Kind und auch während der Tage, während der Wochen, wenn Kathrine im Zollbüro war. Nach der Arbeit ging sie zur Mutter. Zu dritt assen sie zu Abend, später nahm Kathrine das Kind auf den Arm und ging nach Hause. Irgendwann lernte das Kind, selbst zu gehen, und sie musste es nicht mehr tragen. Das war im Sommer. Dann wurden die Tage kürzer, der Herbst kam, der erste Schnee und dann der Winter.  
(S. 10)

Hier in Stamms drittem Roman geht es um Kathrine, eine 28-jährige Frau, die in einem kleinen Dorf in Norwegen weit nördlich des Polarkreises lebt und dort als Zöllnerin russische Trawler, die im Hafen einlaufen, auf Schmugglerware kontrolliert. Sie liebt den Schnee und das Licht, doch die Dunkelheit der langen Wintermonate macht ihr zu schaffen wie so manchem Bewohner des Dorfes. Während das Leben nach Feierabend in der einzigen Bar des Dorfes stattfindet, ist die Fischfabrik der Ort, wo viele aus dem Dorf arbeiten und das Fischerheim die einzige Pension, in der Seeleute, Fischereiagenten und Monteure ein- und ausgehen.


Aus erster, gescheiterter Ehe mit Helge hat Kathrine ein Kind, verheiratet sich zum zweiten Mal mit Thomas, dessen Leben, wie Katrhine es vergleicht, ein gezogener Strich ist in der ungefähren Landschaft ihres eigenen Daseins. Thomas ist erfolgreich, hat sein Leben im Griff, bindet sich jedoch stark an seine vermögenden, Bibel treuen Eltern, und als Kathrine ihm eines Nachts beim Joggen folgt und ein trauriges Bild aufdeckt, kommt sie dahinter, dass Thomas' Persona ein einziges Lügengebäude ist. Diese Entdeckung, und die Flucht vor sich selbst, bewegen Kathrine dazu, eines Abends das Schiff Polarlys zu besteigen und das Dorf zu verlassen. Es folgt eine Reise in den Süden, auf der wir Kathrine begleiten, auf der sie zum ersten Mal fremden Personen und der Welt unterhalb des Polarkreises begegnet. Ihr Ziel ist es, Christian, einen Freund, in Paris zu besuchen.

Seit Wochen war es nur noch dunkel gewesen. Kathrine hatte sich nie an die Dunkelheit der Winter gewöhnt, obwohl sie nichts anderes kannte. Im Sommer sog sie das Licht in sich auf, im Winter war es ihr, als lebe sie nur halb, als träume sie. Wenn die Sonne schien, strahlte alles in ihrem Widerschein, alles leuchtete und war lebendig und schön. Der Winter aber war ein langes Warten.  
(S. 46)
Peter Stamms Sprache ist klar und schlicht. Direkte, indirekte und erzählende Reden erschaffen abwechslungsreiche Dialoge, runden sie in angenehmer Weise ab und folgen keinem trivialen Sprechmuster. Manchmal scheint es, als hätten die Figuren sich nichts zu offenbaren, als würde jeder dem anderen ausweichen wollen. Die Handlung schreitet voran, ohne schnell zu werden, obwohl die Monate manchmal dahinfliegen. Rückblicke führen uns in die Vergangenheit, manchmal werden wir von Gedanken weggetrieben, doch immer wissen wir, wo wir stehen. Es gibt Passagen im Buch, in denen viele Sätze mit «hatte» oder «war» gebildet werden, erstaunlicherweise stört mich das nicht. Es gehört zu Stamms Erzählstil, und der ist sehr authentisch. Gelungen erscheint mir auch der inhaltliche Aufbau in vier grosse Kapitel, dazwischen gibt es regelmässig Abschnitte, die es erlauben, sich aus der Geschichte herauszunehmen, die Atmosphäre aufzunehmen, sie wirken zu lassen - oder auch zu pausieren.

Damals bei der ersten Lektüre fragte ich mich, ob Peter Stamm sich tatsächlich in das Innenleben einer jungen Frau hineinzuversetzen mag, ob Leserinnen sich gar mit Kathrines Person identifizieren oder mit ihr mitfühlen können. Natürlich ist das nicht ein Muss, doch sollten Hauptfiguren Sympathien wecken, es sei denn, der Autor möchte bewusst eine Figur erschaffen, die polarisiert. Auf LovelyBooks habe ich mehrere Kurzmeinungen gesichtet, die die Hauptprotagonistin als unsympathisch beschreiben. Ich kann mir auch vorstellen, warum - aus dem selben Grund, weshalb andere vielleicht mit ihr mitfühlen. Kathrine ist einsam, scheint mit Männern Pech zu haben, lebt ziellos vor sich hin, wird schon früh Mutter und empfindet das Kind als eine Last. Sie heiratet, ohne ihren Mann zu lieben, ihr fehlt der freundschaftliche Aspekt, diesen findet sie in der Beziehung zu einem Jugendfreund.


Dagegen ist nichts einzuwenden. Das kann aber auch ins Auge gehen. Unfreiwillig kann Kathrines Charakter auf den körperlichen Austausch mit dem anderen Geschlecht, auf Abenteuerlust und Oberflächlichkeit reduziert werden. Es sei denn, es ist vom Autor so gewollt. Dort oben in der Dunkelheit nördlich des Polarkreises, was findet man da schon ... "Sei du wie du, immer", so lautet das Vorwort des Buches, ein Zitat des Dichters Paul Celan, das Peter Stamm seiner Geschichte vorausschickt. Verbiege dich nicht, passe dich nicht an, setze keine Maske auf. Am Ende geht dies alle Figuren etwas an, die in diesem tristen Theaterstück eine Rolle spielen.

Kathrine schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa. Die Mutter weckte sie nicht am Morgen. Als sie aufwachte, war es neun, Randy war in der Schule, und die Mutter hatte eingekauft und Kaffee gekocht. Sie sagte, so, du Schlafmütze, stiehlst dem Herrgott den Tag. Was sie immer gesagt hatte, wenn Kathrine nicht hatte aufstehen wollen. Sie sagte, ein Kaffee am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Sie sagte, es soll wieder Schnee geben. Und wo warst du denn die ganze Zeit?  (S. 159)
Wikipedia möchte in dieser Geschichte Elemente eines Entwicklungsromans erkennen. Achtung Spoiler! Am Ende, nach der Rückkehr ihrer dreiwöchigen Flucht, kehrt Kathrine ins Dorf zurück als eine Andere. Sie bleibt nur für kurze Zeit und beginnt dann mit ihrem Sohn und ihrem Jugendfreund Morten ein neues Leben in der Stadt. Sie heiratet erneut, bekommt ein zweites Kind. Doch das Buch endet mit ähnlichen Worten wie der hier oben zitierte erste Abschnitt des Buches. "... Es wurde Herbst und Winter. Es wurde Sommer. Es wurde dunkel, und es wurde hell."  Und ich frage mich, ob Peter Stamm damit nicht zu erkennen geben will, dass Kathrines Leben sich auch nach ihrer Veränderung nicht gross verändert hat.


"Ungefähre Landschaft" wird heute im Fischer Taschenbuch Verlag verlegt und ist nur als Taschenbuch oder eBook erhältlich.

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