Rezension vom März 2024

Bartleby, der Schreiber
Herman Melville

Erzählung
Originaltitel: Bartleby the Scrivener
Erste Buchausgabe 1853
Gelesene Ausgabe: Anaconda Verlag
Auflage 2010
72 Seiten


Bekannter Klassiker mit umfangreicher Sekundärliteratur
Wenn man in Wikipedia den Begriff 'Bartleby, der Schreiber' eingibt, dann erscheint ein Artikel, der fast so lang ist wie die Erzählung selbst. Nun ja, vielleicht ist das etwas übertrieben, aber über den nur siebzig Seiten umfassenden Klassiker ist im Verlauf der Zeit so viel geschrieben, interpretiert und analysiert worden, dass man sich fast genauso viele Stunden Muse für die Sekundärliteratur nehmen muss wie für die Lektüre selbst. Sofern man dies möchte. Bartleby, von dem die Geschichte handelt, würde mit Gewissheit vorziehen, dies nicht zu tun.


Melvilles erzählerische Eigentümlichkeit
Herman Melville erzielte mit dem Kurzroman allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Wie auch schon bei 'Moby Dick', der sich zu Lebzeiten des Autors nur dreitausendmal verkaufte, blieb der finanzielle Erfolg aus, was damals sicherlich als Reaktion auf Melvilles erzählerische Eigentümlichkeit und verwegene Themenwahl verstanden werden konnte. Heute gelten beide Werke als absolute Meisterwerke der klassischen Weltliteratur. 'Bartleby, der Schreiber' wurde vierzehnmal in die deutsche Sprache übersetzt und auch von zahlreichen Verlagen veröffentlicht. Bei meinem Exemplar handelt es sich um die Ausgabe von 2010 des Anaconda Verlags, der für die Veröffentlichung von Weltliteratur-Klassikern bekannt ist. Die Übersetzung aus dem amerikanischen Englischen besorgte Felix Mayer. 


Altmodische aber schöne Prosa
Bei fremdsprachigen Werken stellt sich immer die Frage, wie gut eine Übersetzung denn gelungen sein mag. Hierfür müsste man das Original gelesen haben und auch alle anderen Übertragungen, um sich ein abschliessendes Bild machen zu können, was schier unmöglich ist. Felix Mayers Übersetzung, ohne die anderen zu kennen, scheint mir eine sehr gelungene zu sein, sie gibt Melvilles gepflegten Sprachstil und stilistische Variationen seiner Prosa in ansprechender Weise wider. Die Geschichte wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verfasst, in einer Zeit, in der man sich noch respektvoll und diplomatisch auszudrücken wusste, wie ich finde. Für heutige Begriffe vielleicht altmodisch und verstaubt, aber schön und wohlklingend.

Geschickter Einbezug des Lesers
Was ich sehr mag, ist die gelungene Komposition und Kombination kurzer und langer Sätze, letztere auffallend oft durch die Verwendung von Semikolons über mehrere Zeilen führend. Durch entsprechende Ausdrucksweisen wird die Leserschaft geschickt mit einbezogen. ("Es mag nun scheinen, als gäbe es keinen Grund, mit dieser Geschichte fortzufahren"... oder: "Doch bevor ich mich von meinem Leser verabschiede"... oder: "Bevor ich nun den Schreiber so vorstelle, wie er mir bei der ersten Begegnung erschien"...). Die wenigen Dialoge sind immer passend eingeflochten, sorgen für ein abgerundetes Bild und dafür, dass wir nicht gänzlich in den Gedankengängen des Erzählers versinken.

Ich wiederholte meine Aufforderung so deutlich, wie es mir möglich war. Doch ebenso deutlich kam dieselbe Antwort wie zuvor: "Ich würde vorziehen, das nicht zu tun." "Vorziehen, das nicht zu tun", wiederholte ich, indem ich vor lauter Erregung aufstand und den Raum mit grossen Schritten durchmass. (...) "Ich würde vorziehen, das nicht zu tun", sagte er. Ich sah ihn mit festem Blick an. Sein mageres Gesicht wirkte gleichmütig, seine grauen Augen waren verhangen und ruhig. Ihm war nicht die leiseste Spur innerer Bewegung anzumerken. (S. 20)

Originelle Figurenzeichnungen
Die Geschichte ist Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts angesiedelt. Ich-Erzähler (Ich bin nun schon ein älterer Mann) ist ein Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei an der Wall Street, der drei Angestellte, zwei Kanzleikopisten sowie einen Laufburschen beschäftigt. Ehe er von Bartleby berichtet, eines dieser Geschöpfe, über die sich nichts in Erfahrung bringen lässt, und den er als dritten Kopisten in seiner Kanzlei einstellt, stellt er dem Leser die drei anderen Mitarbeiter vor - Turkey, Nippers und Ginger Nut. Und dies, wie ich finde, in äusserst origineller Art und Weise. Im Vergleich hierzu kann der namenlose Ich-Erzähler über Bartleby, den merkwürdigen Neuen, nahezu nichts berichten, aber auch nichts gegen ihn verwenden. Seine stille, ruhige, stets gelassene Art macht dem Rechtsanwalt Eindruck, denn Bartleby ist ein fleissiger Angestellter und nimmt sich nie eine Auszeit. Anfänglich. Denn schon bald beginnt Bartleby die Arbeit zu verweigern. Aufträge seines Vorgesetzten lehnt er in sanftem Ton ab, erklärt lediglich, es vorzuziehen, das Verlangte nicht zu tun.


Ein innerer Kampf mit sich selbst
So beginnen die Schwierigkeiten, der innere Kampf des Erzählers mit sich selbst, mit seinem Gewissen, und auch mit seinen Glaubensgrundsätzen, die an einigen Stellen des Buches durchscheinen. So beginnt sein Ringen mit dem Unverständnis über die geheimnisvolle aber selbstverständliche Untätigkeit Bartlebys. Er weiss nicht, wie er gegen diesen Arbeitsverweigerer vorgehen, ihn auf die Strasse setzen soll, denn nichts anderes hätte er verdient. Doch Ärger, Empörung und Erregung sind Kräfte, die keinen Platz haben, schliesslich ist unser Ich-Erzähler ein Mann, der seit seiner Jugend von der tiefen Überzeugung erfüllt ist, dass die bedächtige Art zu leben die beste ist. Bartlebys stumme Zurückhaltung erweckt lediglich Mitleid und Mitgefühl in ihm, den Drang, diesen Menschen zu verstehen.

Nun aber liess mich das Band der Mitmenschlichkeit unweigerlich in Trübsinn versinken. Brüderlicher Weltschmerz! Denn beide waren wir doch Söhne Adams, ich und Bartleby. Ich dachte zurück an die glänzenden Seidenkleider und die lebhaften Gesichter, die ich an diesem Tag gesehen hatte, wie die im Festtagsgewand schwanengleich den Broadway-Mississippi hinuntergesegelt waren; ich verglich sie in Gedanken mit dem bleichen Kopisten und dachte bei mir: Ach, alles Glück strebt zum Licht, und so dünkt uns die Welt voll Freude; doch das Elend hält sich versteckt, uns so dünkt uns, dass es kein Elend gibt. 
(S. 34)

Mehr Verweigerung geht nicht
Es kommt soweit, dass der Rechtsanwalt Bartleby vor seinen wütenden Angestellten in Schutz zu nehmen beginnt. Dass sowohl Nippes und Turkey wie auch der Erzähler selbst Bartlebys Wortschatz (Ich ziehe vor...) zu übernehmen beginnen, löst Befremden aus. Bartleby verweigert sich weiterhin, will nicht einmal Botengänge übernehmen, die ihm aufgetragen werden, da seine Augen für die Abschrift von Dokumenten überreizt und geschädigt zu sein scheinen. Dann lässt er verlauten, dass er das Kopieren endgültig aufgegeben habe, und steht irgendwann, gleich eines Inventarstückes der Kanzlei, nur noch stumm an seinem angestammten Platz. Alle Versuche des Rechtsanwalts, Bartleby vom Weggehen zu überzeugen, scheitern jedoch, weshalb es so weit kommt, dass nicht Bartleby geht, sondern der Rechtsanwalt an einem anderen Ort neue Räumlichkeiten bezieht und den unbelehrbaren Schweigsamen mit seiner alten Kanzlei zurücklässt.


Ach Bartleby, ach Menschheit!
Weit gefehlt, zu glauben, dass Bartleby damit aus dem Leben des Rechtsanwalts geschieden wäre. Vom neuen Mieter und dem Eigentümer der alten Räumlichkeiten wird er zur Verantwortung gezogen, denn Bartleby ist nicht aus der Kanzlei rauszukriegen. Noch einmal versucht der Rechtsanwalt, mit ihm zu reden, schlägt ihm andere Beschäftigungsgebiete vor, bietet ihm sogar eine Bleibe bei sich zuhause an, doch vergeblich. Gegenwärtig würde er vorziehen, keinerlei Veränderung vorzunehmen, heisst es seitens Bartleby. Die Geschichte endet tragisch, denn der neue Mieter der Kanzleiräume bringt nicht so viel Geduld auf wie unser besonnene Erzähler. Bartleby landet im Gefängnis, wird ironischerweise wegen Landstreicherei inhaftiert. Verweigert dort das Essen, verweigert sich selbst. "Ach Bartleby! Ach Menschheit!"

Doch bevor ich mich von meinem Leser verabschiede, sei noch Folgendes gesagt: Wenn diese kleine Erzählung sein Interesse so stark geweckt hat, dass er nun auch neugierig geworden ist und wissen will, wer Bartleby war und was für ein Leben er geführt hat, so kann ich hierzu nur festhalten, dass ich diese Neugierde zwar voll und ganz teile, sie jedoch nicht im Geringsten befriedigen kann. Jedoch zögere ich an dieser Stelle, ein Gerücht - eine Kleinigkeit nur - weiterzuverbreiten, das mir einige Monate nach dem Tod des Schreibers zu Ohren gekommen ist. (S. 69)

Interpretationsversuche
Der Fokus der Geschichte, der anfänglich auf den Anstrengungen des Ich-Erzählers liegt, auf Bartleby einzuwirken, verlagert sich mehr und mehr auf dessen Bemühen hin, diesen Menschen verstehen zu lernen. Es gibt in der Literatur viele Interpretationsversuche, die sich auf die Selbstentfremdung und gescheiterte Persönlichkeit des Kopisten beziehen, die einen Bezug herstellen wollen zwischen den zu Beginn der Geschichte beschriebenen Räumlichkeiten der Kanzlei und den Gefängnismauern am Ende des Buches. Man will in der Figur Bartlebys Ansätze eines Selbstportraits des Autors sehen oder eine Parabel auf die Lage eines erfolglosen Schriftstellers, der sich angesichts des Unverständnisses seiner Zeitgenossen letztlich verweigert. Wiederholt wurde Bartleby auch als Sinnbild für passiven Widerstand oder zivilen Ungehorsam verstanden. Heute würden ihm wohl psychotische oder neurologische Erkrankungen untergeschoben, oder autistische Züge.


Geniales Portrait einer skurrilen Persönlichkeit
Wie dem auch sei. Ich ziehe es vor, keine Deutungen vorzunehmen und das Werk als geniales Portrait einer skurrilen Persönlichkeit zu geniessen, als Schilderung einer dunklen Innenwelt eines Menschen, wie Kafka sie später verfolgt, und des erfolglosen Versuchs eines Mitmenschen, diese zu ergründen und zu verstehen. Ein zeitloses Meisterwerk zweifelsohne. Ich bin diesem Büchlein diese Woche beim Besuch eines Gebrauchtbuchladens zufällig begegnet und musste es natürlich gleich erstehen und lesen, obwohl dies nicht geplant gewesen war. Die Lektüre hat sich gelohnt.

Das Buch ist in gebundener Ausgabe im Handel erhältlich, es wird vom Insel Verlag, vom Anaconda Verlag und vom Gröls Verlag aufgelegt. Als Taschenbuch ist es zudem bei C.H. Beck und Faber & Faber erhältlich. Auch als e-Book kann man es bei wenigen Anbietern downloaden.

2 Kommentare


Michael Mittelhaus - 13. März 2024 um 12:51 Uhr

Hallo Michael, eine hochinteressante Lektüre hast Du Dir da ausgesucht. Der Bartleby ist doch wirklich ein spannender Typ. »Kopist« muß ein seltsamer Beruf gewesen sein, gut dass Melville ihm diese Erzählung gewidmet hat. Grüsse aus Berlin!

bookstories - 15. März 2024 um 13:34 Uhr

Lieber Michael, vielen Dank für Deinen Kommentar. Kopist war damals in der Zeit, als es noch keine Kopierapparate gab, wohl kein aussergewöhnlicher Beruf, aber bestimmt ein monotoner. Man stelle sich vor, den ganzen Tag lang nur Dokumente abzuschreiben und danach mit dem Original gegenlesen zu lassen. Dafür hatte der Rechtsanwalt hier in "Bartleby, der Schreiber" drei Personen in seiner Kanzlei angestellt.

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