Gelesen im Mai 2023

Damit du dich im Viertel
nicht verirrst
Patrick Modiano


Carl Hanser Verlag, 160 Seiten
Ersterscheinung 2014

Ich wollte nach der letzten Lektüre (Gräser der Nacht) noch ein Weilchen in Patrick Modianos Welt verweilen und habe mir deshalb im Anschluss gleich sein wohl autobiografischstes Werk zu Gemüte geführt. Wieder bewegen wir uns in einer Welt der Schatten und Schemenhaftigkeit längst vergangener Zeiten, wieder sind wir in Paris, wieder liegt der Stadtplan von Paris neben meinem Lesesessel, erneut verschachtelt Modiano drei verschiedene Zeitebenen ineinander, wieder heisst der Hauptprotagonist Jean (Daragane), und wieder geht es um eine verlorene Kindheit in den Fünfzigerjahren mit Spätfolgen, an die sich der Erzähler (Autor ...) über fünfzig Jahre später zu erinnern versucht - oder vielmehr, aus seiner vielleicht beabsichtigten Amnesie unfreiwillig hervorholen muss.
Vielleicht war es ein Fehler, in diese ferne Vergangenheit einzutauchen. Wozu? Seit vielen Jahren dachte er nicht mehr an sie, sodass ihm diese Zeit seines Lebens schliesslich wie durch eine milchige Glasscheibe erschien. Sie liess eine diffuse Helligkeit durchsickern, doch man erkannte weder Gesicher noch Gestalten. Eine glatte Scheibe, eine Art Schutzschild. Vielleicht war es ihm ja durch eine willentliche Amnesie gelungen, sich endgültig von dieser Vergangenheit zu schützen. Oder die Zeit hatte allzu starke Farben und Unebenheiten gemildert.
Der Autor schickt seiner Geschichte als Vorwort ein Zitat des französischen Schriftstellers Stendhal voraus, der in den Anfängen des 19. Jahrhunderts gewirkt hatte: "Ich kann die Wirklichkeit des Geschehenen nicht darstellen, ich kann nur seinen Schatten zeigen." Diese Worte sind sehr tiefgründig und bezeichnend für alle Werke Modianos. Wenn wir diesen Satz interpretieren und in seiner Tiefe erfassen, verstehen wir Patrick Modianos Texte, die auf der einen Seite sehr leichtfüssig geschrieben sind, auf der anderen Seite aber sehr viel Leid beinhalten und beschreiben, das Leid eines Suchenden nach seiner Identität. Das Vergessen, ob nun durch bewusste Verdrängung oder den Lauf der Zeit hervorgerufen, und die Schatten der Vergangenheit, die sich bis in die Gegenwart recken und das Persönliche einer Person prägen, ist Modianos zentrales Schreibthema. Auf der Rückseite des Buches steht geschrieben, dass Modiano sich hier einer Episode seiner Kindheit nähert, die seine ganze literarische Vorstellungswelt geprägt hat. 
Wie schon in "Gräser der Nacht" bewegen wir uns erneut in drei verschiedenen Zeitdimensionen. Da ist der kleine sechsjährige Jean, dem sich eine junge Frau namens Annie Astrand angenommen hat, weil die Eltern ihn aus unerwähnten Gründen abgeschoben haben, da ist der einundzwanzigjährige Jean, der gerade sein erstes Buch schreibt und sich an diese Kindheit zurückerinnert, und da ist der in der Gegenwart lebende, über sechzig Jahre alte Jean, der sich aufgrund einer Begegnung mit zwei unbekannten Personen an diese beiden früheren Lebensepisoden zurückerinnert. Und fleissig springt der Autor hin- und her, erinnert sich selbst in der Erinnerung, und fügt auch noch Traumbilder hinzu, so dass der Erzähler sich in diesen Bildern nicht wirklich zurechtfindet und der Leser bestrebt ist, immer zu erkennen, in welcher Zeit er sich gerade befindet. Das hört sich verwirrend an, ist es aber eigentlich gar nicht. Das muss man Modiano lassen.


Ein paar Formulierungen liessen mich an "Gräser der Nacht" denken, wie zum Beispiel das Bild mit den undeutlichen Morsezeichen, die durch die Zeit dringen, oder das Licht, das jemand brennen lässt. Sie scheinen zu Modianos Bildsprache zu gehören. Ich bin gespannt auf weitere Romane. Ich denke, er schreibt keine neuen Geschichten, er ist in der einen Geschichte gefangen, die ihn zum Schreiben bewegt.