Roman
Originaltitel: The Catcher in the Rye
Erste Buchausgabe: 1951
Gelesene Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, 271 Seiten
Auflage 1975
Rezension vom Juni 2024
Der Buchtitel geht auf das Gedicht "Coming through the Rye" des schottischen Lyrikers Robert Burnes zurück, das zu einem bekannten Kinderlied wurde. Den Text des Refrains "falls jemand jemanden trifft, der durch den Roggen geht", deutet Holden für sich um. Er stellt sich vor, in einem Roggenfeld am Rand einer Klippe zu stehen und dort spielende Kinder vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Bei dieser Vorstellung fühlt er sich besser, hier wird Holdens Beschützerinstinkt deutlich, sein Verantwortungsgefühl, das auch in der Begegnung mit seiner kleinen Schwester Phoebe spürbar ist. Holden ist, obwohl alles andere als angepasst, lernfreudig, zielorientiert oder einsichtig, ein sehr intelligenter, belesener, sensibler und rechtschaffener Bursche, der sich einsam, unverstanden und meist deprimiert fühlt, der von sich selbst behauptet, der dümmste seiner wohlhabenden Familie zu sein, und der an allem etwas auszusetzen hat. Schwierig ist es, erwachsen zu werden, wenn man nicht gehört wird, wenn die Welt, die einen erwartet, so aufgeblasen und verlogen ist.
Und Verlogenheit kann er nicht ausstehen. Auch Geld spielt für ihn keine Rolle, obgleich er minderbemittelte Schulkollegen, aber auch Snobs, eigentlich die gesamte Schülerschaft und Erwachsenenwelt abwertend und kritisch beurteilt. "In New York kommt es nur auf Geld an, im Ernst", oder "Weit und breit nur Idioten." Holden sieht in der wohlhabenden Gesellschaft - schliesslich hat er immer Schulinternate besucht und kennt kaum etwas anderes - nur Aufgesetztheit und Unnatürlichkeit, das alles macht ihn rasend. Er kann überhaupt nichts ausstehen, sträubt sich gegen alles, kann nichts und kaum jemandem etwas Positives abgewinnen. Ein klassischer Rebell schlechthin. Gewisse Parallelen kann man mit Grady ziehen, der Protagonistin in Truman Capotes "Sommerdiebe", die im selben Alter und aus reichen Familienverhältnissen stammend auch ziellos durch die Strassen von New York zieht. Die Geschichte spielt sogar zur selben Zeit. Holden und Grady hätten sich im Central Park durchaus begegnen können.
Holden fehlt Geborgenheit und Aufmerksamkeit. Ihm fehlt sein jüngerer Bruder, der an Leukämie verstarb. Deshalb stellt er sich auch oft vor, angeschossen zu sein und aus Schusswunden zu bluten, oder an Lungenentzündung zu sterben, dann würden Millionen Menschen zu seiner Beerdigung kommen. Oder erzählt der Mutter eines Schulkollegen, er müsse nach Hause fahren, weil ein Hirntumor entfernt werden müsse. Oder zieht sich gedanklich in eine einsame Blockhütte zurück, die nur Menschen besuchen dürfen, die nicht verlogen sind. Um Holden psychoanalytisch zu durchleuchten, müsste man das Buch wohl mehrmals lesen und ein besonderes Augenmerk auf seine Sprach- und Verhaltensmuster legen. Man kann das Buch aber auch einfach nur geniessen und Freude an Holdens witziger Erzählweise haben.
Ich hatte "Der Fänger im Roggen" vor vielen Jahren schon einmal gelesen. Inhaltlich ist mir das Buch in den wenigsten Einzelheiten noch präsent gewesen. Sprachlich blieb es immer irgendwo im Hinterkopf hängen, allerdings hatte ich diesen Ideolekt, wie die individuelle Sprache eines einzelnen Menschen - Ausdrucksweise, Wortschatz und Sprachverhalten -, genannt werden, etwas kantiger und salopper in Erinnerung. Ulrich Plenzdorf nimmt in seinem Buch "Die neuen Leiden des jungen W." auf Salingers Holden Caulfield immer wieder Bezug, indem er Holden seinem Protagonisten Edgar Wibeau gewissermassen zum Vorbild macht und Edgar auch in seinem eigenen Jugendslang erzählen lässt. Heute finde ich, dass Edgar Wibeaus Sprachduktus origineller wirkt als Salingers Holden Caulfield. Doch vergleiche ich hier Äpfel mit Birnen, denn Salingers Wogen wurden durch einige Lektoren und Übersetzungen ja geglättet.
Ich kann mich für Autoren, die sich für die Charakterisierung ihres Protagonisten eines individuellen Sprachausdrucks bedienen, sehr begeistern. Ich betrachte das als wahre Schreibkunst. Steinbecks "Von Mäusen und Menschen" fällt auch in diese Kategorie. Oder die Bücher von Cormack McCarthy. Das ist bei Werken von Kafka beispielsweise, den ich auch sehr schätze, nicht der Fall. Seitenlang lässt Kafka seine Figuren sprechen und von allen Seiten beleuchten, aber sie pflegen alle dieselbe intellektuelle Sprache. Was mir an Holden Caulfields Erzählweise besonders gefällt und mich immer wieder zum Schmunzeln bringt, sind seine überzeichnenden Schilderungen und Generalisierungen, die sich fernab jeglicher Realität bewegen.
"Der Fänger im Roggen" ist Salingers einziger Roman, und trotzdem gilt er heute als einer der meistgelesenen und meistrezensierten amerikanischen Autoren der Nachkriegszeit. In der amerikanischen Literaturgeschichte werden die Jahre von 1948 bis 1959 sogar als Salinger era bezeichnet.