Mahlers letzte Reise
Wie könnten sich die letzten Stunden eines Menschen anfühlen, der Mitte fünfzig noch nicht erreicht hat, eines harten, leidenschaftlichen, arbeitsintensiven Lebens müde ist, dessen Körper seinen Dienst getan hat und der Tod unmittelbar bevorsteht? Dieses Thema nimmt Robert Seethaler in seinem Roman "Der letzte Satz" auf, in dem er Gustav Mahler einige Lebensstationen und Momente seines kurzen Lebens Revue passieren lässt, während er auf dem Sonnendeck des Dampfschiffs Amerika auf einer Kiste sitzt, von New York nach Europa unterwegs ist, und alles in ihm schmerzt. Es ist seine letzte Reise. Dabei könnte Gustav Mahler eine x-beliebige Person sein, der dieses Schicksal widerfährt, denn zwar geht es in diesem kurzen, nur hundertsechsundzwanzig Seiten langen Roman, der sich wie eine Novelle liest, wohl um die Lebensbilanz des weltberühmten Komponisten, aber auch, oder hauptsächlich, um innere Prozesse, um Momente des Schmerzes und Bedauerns, der Reue und Schuld, der Liebe und des Glücks, um die Rückschau eines dem Tode geweihten Mannes, der das Leben zwar geliebt, es aber nie richtig zu fassen bekommen hat.
Neidlose Anerkennung
Es war nicht explizit das Thema, das mich zu diesem Buch hatte greifen lassen, obwohl mich solch tiefgründige Anschauungen, die den Menschen ausmachen, immer reizen. Ich wollte einfach einmal ein Buch von Robert Seethaler lesen, von dem noch mehrere in meinem Regal stehen. Robert Seethaler ist Österreicher, lebt in Wien und Berlin, und hat beinahe denselben Jahrgang wie ich, was ich immer besonders interessant finde: Schriftsteller zu lesen, die von einem ähnlichen Zeitgeist geprägt sind. Manchmal kommt mir dabei der neidlose und anerkennende Gedanke, schau, der hat es geschafft, wo würde ich wohl heute stehen, wenn meine eigenen Bücher damals bekannt geworden wären und ich als Schriftsteller meinen Weg gemacht hätte. Dies sind Gedanken ohne jegliche Reue und Wehmut. Dinge kommen immer so, wie sie kommen müssen.
Persönliche Lebensbilanz
So auch in Gustav Mahlers Leben, in das wir mit "Der letzte Satz" nur bruchstückweise Einblick erhalten. Eine die Wirklichkeit abbildende Biografie wäre auch viel umfassender und komplexer. Gewiss wird Robert Seethaler sich eingehend mit Gustav Mahlers Person befasst und fundiert recherchiert haben. Und: anhand weniger Stationen und rückgeschauter Ereignisse versucht er Mahlers Befindlichkeiten zu erfassen, was so bestimmt in keiner Literatur über Mahler zu finden ist. Es ging dem Autor nicht darum, weitere Literatur zu dem weltberühmten Komponisten zu schaffen, der von 1860 bis 1911 gelebt hat, sondern um eine mögliche Innenschau, die sich durchaus so manifestiert haben mag. "Der letzte Satz" ist keine Biografie, bestenfalls ein Roman mit historischem oder biografischem Hintergrund. Weder die Geschichte der Musik noch die musikalischen Werke Mahlers stehen im Mittelpunkt. Man muss kein Musikkenner sein und sich auch nicht mit Mahler beschäftigt haben, um diesen Text geniessen zu können. Es geht nicht um Meisterschaft oder Genialität, es geht um eine persönliche Lebensbilanz, und um Abschiednehmen.