Bemerkenswerte Transparenz der Figuren
Jede Regung, jede Empfindung scheint Stuart Harrison transparent zu machen, er nimmt sich Zeit für seine Figuren. Er lässt den Leser teilhaben an inneren Motiven, Gedankengängen, Emotionen, Erkenntnissen oder Beobachtungen seiner Protagonisten, arbeitet diese sorgfältig heraus, und zwar auch für jene Personen, die eher eine nebensächliche Rolle spielen. Vielleicht mögen scharfe Literaturkritiker anmerken, dass dies zuviel des Guten sei, dass weniger Worte genauso aussagekräftig gewesen wären. Vielleicht mögen sie sagen, die Figuren wirken trotz der Tiefe, die der Autor erzeugen möchte, irgendwie zu normal, zu vorhersehbar, zu stereotyp, auswechselbar, so als kenne man das alles schon aus amerikanischen Filmen. Tatsächlich hat man manchmal das Gefühl, als würden Szenen eines Films beschrieben.
Gerüchte und Geschichten
Aber Stuart Harrison ist Engländer und wohnt in Neuseeland, und mich stört diese Dramaturgie, diese Generalisierung menschlicher Schwächen und Fehlbarkeiten, wenn man es so nennen will, nicht im Geringsten. Ich finde eher, dass der Autor für seine Figuren Empathie entwickelt, sie versteht, und auch Möglichkeiten aufzeigt, wie Gedanken und Interpretationen von Begebenheiten in der menschlichen Psyche Form annehmen können, die fern der Realität sind. Da müssen wir schmunzeln, wenn jemand Gerüchte in die Welt setzt und aus seinem eigenen beschränkten Denken Geschichten um die Wirklichkeit baut. Und da atmen wir auf, wenn wir aus diesem dramatischen Bühnenstück, das sich in Little River Bend abspielt, herausgenommen werden, indem wir miterleben dürfen, nach welch einfachen Grundmustern das Schneefalkenweibchen Cully die Welt erfährt.