Februar 2023

Der Schneesturm
Vladimir Sorokin


Roman
Kiepenheuer & Witsch, 207 Seiten

Ersterscheinung 2010



Man versuche eine Geschichte zu schreiben, in der auf 207 Seiten von nichts anderem die Rede ist als von einer Reise zweier Personen in einer Kutsche durch die verschneite Steppenlandschaft Russlands während eines Schneesturmes, ohne damit beim Leser Langeweile zu erzeugen. Wenn die Protagonisten zum x-ten Mal auf einer zugeschneiten Strasse die Orientierung verlieren, mit dem Mobil steckenbleiben, sich durch tiefen Schnee kämpfen müssen, Gesicht und Füsse einzufrieren beginnen, und sich dabei kein Satz und keine Beschreibung wiederholt, dann ist das Schreibkunst. Mit "Der Schneesturm" beweist Vladimir Sorokin (Wladimir Georgijewitsch Sorokin), einer der heute wohl bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands, sein Können, mit Worten, eindrücklichen Bildern, Sprachrhythmus, Humor und dichterischer Erzählkunst umzugehen. Eine zu Beginn gewöhnliche Erzählung, die zeitlich im vergangenen 19. Jahrhundert angesiedelt zu sein scheint, entpuppt sich zu einer mystischen, phantasievollen, märchenhaften Zukunftsvision in einem imaginären Russland, dessen Vergangenheit und Gegenwart mit einigen Anspielungen heftig kritisiert und aufs Korn genommen werden.



Der Landarzt Platon Garin ist auf dem Weg in den ungefähr zehn Werst entfernten Ort Dolgoje, um dort eine von einer eingeschleppten Pest infizierte Bevölkerung mit Vakzinen zu behandeln. Oder vielmehr jene Menschen, die noch nicht infiziert sind, denn den anderen ist nicht mehr zu helfen, da diese sich zu Zombies entwickeln, die sich unter der Erde aufhalten und fortbewegen. Dies ist aber rein nebensächlich, wird nur hin und wieder am Rand der Geschichte erwähnt, denn einziger Erzählstrang ist diese Reise des pflichtbewussten, hartnäckigen und zielstrebigen Doktors, der, weil auf einer Station aufgrund des herrschenden Schneesturmes keine Pferde und Kutschen mehr auszuleihen sind, den treuen Brotkutscher Kosma für die Fahrt anheuern kann. 
So beginnt die Geschichte, und auf den folgenden zweihundert Seiten wird nichts anderes beschrieben als das groteske Abenteuer und der einsame Kampf dieser beiden ungleichen Personen durch dichten Schnee in immer unwegsamerem und verschneiterem Gelände. Einzige Zwischenstation ist eine Übernachtung in des Müllers Haus und ein Kurzaufenthalt in einem Nomadenzelt. Ein Kampf, der am Ende, das kann man schon von Beginn weg erahnen, nicht gut endet. Meines Erachtens geht es dem Autor auch nicht darum, wie die Geschichte endet, obwohl diese Frage den Leser schon durch den heftigen Schneesturm vorantreiben mag, und obwohl das Ende auch ein sarkastisches Sahnehäubchen obendrauf verspricht, sondern eher um eine in ein skurriles Märchen verpackte Darstellung eines Landes, das in seinen Grundfesten erschüttert ist und sich in eine Richtung bewegt, bei der das Menschliche, vom Kutscher Kosma auf treue Art verkörpert, irgendwo auf der Strecke bleibt.

Dort aber verlor der Krächz den Weg ganz und gar. Er lief mehrmals im Kreis durch den knietiefen Schnee, rutschte in Gruben, stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf. Der Doktor konnte seine Silhouette im Finsteren kaum noch erkennen. Restlos erschöpft kehrte der Fuhrmann schliesslich zum Mobil zurück. Plumpste auf die Knie, legte die Arme um das Mobil. "Herr im Himmel ..." "Was ist?", fragte der Doktor mit gerunzelter Stirn. "Er iss weg. Wie vom Erdboden verschluckt ..." "Vom Erdboden verschluckt, das kann ja wohl nicht sein!" "Weiss Gott nich ... Anscheinend schlägt der Satan uns ein Schnippchen, der Herr!" "Dann geh ich jetzt mal suchen ..." "Lieber nich, der Herr ..." Doch der Doktor stapfte entschlossen in die Schnee spuckende Finsternis. (S. 133/134)
Gewiss könnte man Sorokin mit dieser simplen Geschichte unterschwellige Botschaften unterstellen. Sorokin gilt als sehr staatskritisch, war oder ist immer wieder Opfer regimetreuer Gruppierungen und lebt seit Beginn des Ukrainekriegs in Berlin im Exil. Aber bloss weil ein russischer Autor einen sehr einfach gesrickten, merkwürdigen Roman verfasst, müssen ja nicht zwingend politische oder gesellschaftskritische Anspielungen zwischen den Zeilen versteckt sein. Ich möchte an dieser Stelle auch keine Interpretation anbringen. Es wäre schade für dieses Buch, für diese so frische, tragikomische, witzige Darstellung zweier Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein können, die sich zu Beginn dieser anstrengenden Kutschenfahrt kaum nahekommen und mit der Aussichtslosigkeit ihrer Situation immer mehr aufeinander angewiesen sind. Obwohl diese Annäherung seitens des treuen, gutherzigen Brotkutschers nie in Frage gestellt zu sein scheint und der Doktor seine ambivalente Haltung beibehält.


Sorokin schreibt stilistisch schön, bildgewaltig und doch auf trockene und witzige Weise, als würde konstant eine unbeabsichtigte Komik seine Worte begleiten, obwohl dieser Witz sehr wohl beabsichtigt ist. Sorokin bedient sich hierfür einerseits der Einfältigkeit seines Protagonisten, die vom Brotkutscher Kosma sehr originell dargestellt wird (wir können ihn nur liebgewinnen), andererseits werden völlig skurrile Dinge und Geschehnisse auf eine Weise geschildert, als wären sie etwas vollkommen Alltägliches. Gerade deshalb kommt diese Geschichte dermassen heiter und humorvoll daher, dass ich während der gesamten Lektüre immer wieder schmunzeln musste. "Der Schneesturm" ist mein erster Roman von Sorokin, weshalb ich diese Stilistik nicht auf seine anderen Werke extrapolieren möchte. Auch weiss ich nicht, wie gut die Übersetzung aus dem Russischen die ursprüngliche Komposition widergibt.

Der Doktor stiess mit dem Fuss dagegen - die Pyramide glitt ein Stück zur Seite. Er nahm sie zwischen die Hände und richtete sich auf. Sie war leicht, geradezu schwerelos. Der Doktor drehte sie in Händen. "Was zum Teufel ist das denn?" Der Krächz wischte sich den anhaftenden Schnee von den Brauen und guckte. "Was kanns sein?", fragte er zurück. "Eine Pyramide", sagte der Doktor mit gerunzelter Stirn. "Hart wie Stahl". "Und gegen die sind wir geknallt?" "Sieht ganz so aus." Der Doktor konnte nicht aufhören, sie in den Händen zu drehen. "Was hat die hier zu suchen?" "Wird wem vom Karrn gefallen sein." "Aber wozu ist dieses Ding gut?" "Ach, der Herr", winkte der Krächz wütend mit dem Handschuh ab und ging zum Mobil. "Was gibts heutzutage nich alles, wo keiner weiss, wozus gut iss."  (S. 30)
Besonders Grössenunterschiede scheinen es dem Autor in diesem fantastischen Wintermärchen, das weder in Kapitel noch Abschnitte unterteilt ist, angetan zu haben. Da begegnen die beiden Reisenden dem Müller, einem Kleinwüchsigen, der so kleinwüchsig ist, dass er seinen Selbstgebrannten aus dem Fingerhut der Müllerin trinken muss oder aus einer Essiggurke Keile herausschneidet wie normale Menschen aus einer Melone; da ziehen fünfzig Pferdis das Mobil des Kutschers, die nicht grösser sind als kleine Rebhühner und deren vier in der Fellmütze des Kutschers Platz haben; da tauchen auf der anderen Seite grosswüchsige Pferde auf, so gross wie ein zweistöckiges Haus, die ganze Wagons ziehen, oder ein toter, auf dem Weg liegender Riese, in dessen Nasenloch sich das Schneemobil verkeilt, und der einen lebendigen Riesenschneemann mit Riesenphallus gebaut haben soll. Visionäre Hochtechnologien spielen eine Rolle - Radios, aus denen wie Hologramme lebendige Bilder treten, von lebendgebärender Filzpaste ist die Rede, aus der im Nu Behausungen gebaut werden, und von im Schnee liegenden Pyramiden, bei denen sich herausstellt, dass sie ein neues Drogenprodukt von Nomaden sind.


Sorokin schildert stets aus der Sicht des Erzählers, wechselt hie und da aber auch auf die Innenschau und Gedankengänge des Doktors oder des Kutschers. Auch finde ich, dass er bewusst mit der Länge der Sätze spielt, um die entsprechende Atmosphäre zu schaffen. So zum Beispiel in der Schilderung von Garins Drogentrip im Zelt der Nomaden, wo die Sätze sehr kurz ausfallen - umso weiter holt er hier für mein Befinden mit der Beschreibung dieser halluzinogenen Reise aus. Zehn Seiten waren mir da einfach zu viel, tatsächlich war es die einzige Stelle im Buch, die ich quergelesen habe, was ich sonst nicht tue. An einer späteren Stelle, wo Garin fast zu erfrieren droht, setzt der Autor für Garins Traumbilder keinen Punkt, so dass der Satz fast über anderthalb Seiten reicht. Die sehr originellen Dialoge zwischen dem Kutscher und dem Doktor werten die Geschichte, in der selbst nicht viel passiert, auf, sind meines Erachtens sogar ein tragendes Element.
Ich habe das Buch bereits zum zweiten Mal gelesen. Weshalb ich es mir vor einigen Jahren gekauft habe, weiss ich nicht mehr, ich denke, es war das hübsche Buchcover und der Titel, die mir ins Auge gefallen sind. Der verschneite Wald lädt zur Lektüre ein, man erwartet allerdings keine Zukunftsvision - diese schält sich im Klappentext aber heraus. Ein etwas anderes Wintermärchen. Mir hat die Lektüre sehr zugesagt. Ich möchte den Roman jedem empfehlen, der fantasievollen, skurrilen Geschichten nicht abgeneigt ist und gleichzeitig in eine wundersame dichterische Welt eintauchen möchte. Man kann das Buch, einmal mit der Lektüre begonnen, kaum noch weglegen.

Ein klarer Nachthimmel wölbte sich über dem unabsehbaren Schneefeld. Selbstherrlich prangte dort oben der Mond, brachte Myriaden frisch gefallener Schneeflocken zum Funkeln, versilberte die bereifte Matte über der Kaube, den Fäustling des Fuhrmanns am Lenkscheit, die Fuchsschwanzpelzmütze des Doktors, Kneifer und Parka. Wie ausgesäte Diamanten lagen die Sterne über den Himmel gestreut, glänzten von oben herab. Ein nicht sehr kräftiger, doch kalter Wind von rechts trug den Duft von tiefer Nacht, frischem Schnee und ferner menschlicher Behausung heran.  
(S. 145)
"Der Schneesturm" ist bei Kiepenheuer & Witsch als gebundene Ausgabe, als Taschenbuch, eBook und Hörbuch erhältlich.

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