Rezension vom April 2024
Roman
Erste Buchausgabe 1989
Gelesene Ausgabe: Luchterhand Literaturverlag
2. Auflage 1989
217 Seiten
Ausgestossen in die Opferrolle
Dallow kehrt in eine leere Wohnung zurück, seine Freundin hat ihn schon während seiner Haft verlassen. Seine Arbeit am Historischen Institut kann er nicht wieder aufnehmen, seine Dozentenstelle wird nun von Rössler besetzt, den er nie gemocht hat. Nun hängt er in seinem Stammcafé herum, besucht Nachmittagsvorstellungen im Vorstadtkino und pickt zu später Stunde in Nachtlokals Frauen auf, bei denen er die Nacht verbringt. Überall stösst Dallow auf Abwehr, am Institut, bei seinem Nachbarn Stämmler, selbst als er seine Eltern auf ihrem Hof besucht, hat der Vater für seinen Sohn nur Verachtung übrig, obwohl Dallow ihm die fadenscheinigen Gründe seiner Verurteilung zu erklären versucht. Vorwürfe lösen Gegenvorwürfe aus, Dallow kontert, es seien ja die Eltern gewesen, die ihn in den Klavierunterricht geschickt hätten.
Menschlicher Antiheld ...
Doch auch Dallow kann nicht vergessen, will sich von den Herren Richter und Strafverteidiger rehabilitiert sehen, weist strikt alle dargebotenen Hände höhnisch ab, und entwickelt sich zum klassischen Nein-Sager. Das ist der erste Punkt, der seine Person nicht unbedingt sympathisch erscheinen lässt. Ja, Erinnerungen an die Zeit in der Zelle machen ihm zu schaffen, lösen ambivalente Gefühle in ihm aus. Ja, er kommt mit seinem Leben nicht mehr zurecht. Dallow ist ein Antiheld, was ihn menschlich macht. Er sehnt sich nach der Geborgenheit und Einfachheit des Alltags in der Zelle, in der keine Entscheidungen zu treffen waren, wacht nachts schweissgebadet auf und glaubt, die Zeit renne ihm davon. In erregten Zuständen beginnt seine rechte Hand zu zittern und verkrampft sich, was Folgen hat, denn als er den Richter eines Nachts bis in den Park verfolgt, um mit ihm zu reden, verschliesst sie sich um den Hals des Richters, der daraufhin ein Druckmittel in der Hand hat. Dallow soll endlich eine Arbeit finden, ansonsten dieser Übergriff gegen ihn verwendet werde.
... aber unsympathischer Protagonist
Dallows zweiter, unvorteilhafter Zug ist, wie ich finde, seine Einstellung zu Frauen. Für ihn sind sie nichts anderes als ein Mittel zum Zweck - ein Mittel, seine Lust zu befriedigen, was ihn selbst anwidert. Aufgrund ihres Aussehens stuft er sie ein, will sie sich nach seinen nächtlichen Abenteuern gar nicht ansehen. Binden will er sich schon gar nicht, Diskussionen vermeiden, sich morgens am liebsten schweigend aus dem Staub machen. Dass er schon vor seiner Inhaftierung kein Unschuldslamm gewesen sein muss, lassen seine billigen Annäherungsversuche bei seinen ehemaligen Arbeitskolleginnen des Instituts vermuten, denn sie kennen ihn und lassen es sich gefallen. Als er der alleinerziehenden Elke dann doch näherkommt, ihr sogar vorschlägt, bei ihm einzuziehen, will sie nichts von ihm wissen. Erst soll er mit sich selbst ins Reine kommen. Sein Mangel an Empathie erreicht gegen Ende des Buches einen Höhepunkt, als ihn der Weinkrampf eines Mädchens aufgrund der in der Tschechoslowakei passierenden Vorfälle erregt und ihm nichts Besseres einfällt, als erneut mit ihr zu schlafen. Was soll man dazu sagen?
Dunkle Machenschaften des Staatsapparates
Dallow ist sich bewusst, dass er den Rest seines Lebens nicht untätig herumhängen kann. Auch würden ihn seine Finanzen nur ein Jahr über Wasser halten. Seine Arbeitsuche als Kraftfahrer endet überall, wo er vorstellig wird, erfolglos, obwohl die Betriebe Kraftfahrer suchen. Dallow vermutet eine Verschwörung. Auch wird er bei einer Autofahrt grundlos von einer Streife angehalten und verzeigt. Dallow geht davon aus, dass die beiden Herren Schulze und Müller, die ihn nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in ein spärlich eingerichtetes Arbeitszimmer im Gerichtsgebäude einladen und ihm Hilfe anbieten, wenn er ihnen ebenfalls hilft, mit diesen Vorfällen zu tun haben. Die beiden tauchen immer wieder auf, um Dallows historisches Wissen für ihre Machenschaften, die im Dunkeln bleiben, zu gewinnen.
Zunehmende Gleichgültigkeit
Einzig zu Harry, dem Kellner in seinem Stammcafé, unterhält Dallow eine kollegiale Beziehung. In diesem Lokal hatte Dallow früher Auftritte als Pianist. Harry sorgt mit seinen Beziehungen dafür, dass Dallow eine Anstellung als Kellner in einer Gaststätte auf der Insel Hiddensee in der Ostsee erhält. Dort angekommen, entwickelt sich Dallow schon bald zum Ärgernis des Personals. Rasch spricht es sich unter den jungen Studentinnen herum, dass hier ein Kellner arbeitet, der immer ein Bett frei hat. Die sich zuspitzenden militärischen Ereignisse - im Buch erfahren wir nichts davon, denn Dallow interessiert sich nicht mehr für das politische Geschehen -, der Einmarsch sowjetischer wie auch ostdeutscher Truppen in Prag, entscheiden indirekt schlussendlich über das weitere Schicksal unseres Protagonisten, das man als Leser am Ende irgendwie gleichgültig hinnimmt.
Unterkühlte Atmosphäre
Es sind die Bilder aus jener Zeit Ende der sechziger Jahre in der DDR, die das Buch zu einer besonderen Leseerfahrung machen. Eine zweite Lektüre würde gewiss noch tiefere Einblicke gewähren. Was subtil wahrgenommen werden kann, ist die unterkühlte Atmosphäre, die Hein durch eine Untertreibung des Geschilderten entstehen lässt. Understatement pur, wie im Klappentext steht. Das nicht Erwähnte, nicht Überzeichnete, im Hintergrund sich Abspielende und Bedrohliche ist stets präsent. Nicht weil Februar ist und Schnee liegt und viele Wohnungen nicht geheizt sind, irren wir mit Dallow durch ein kaltes Leipzig, sondern weil das Fremde und das latent Kontrollierende in den Strassen wacht.
Anspielungen auf Verfassung und Strafrecht
Im Februar 1968, nämlich genau zu dem Zeitpunkt, wo die Geschichte des Tangospielers beginnt, wurde in der DDR die neue sozialistische Verfassung veröffentlicht und im April bereits eingeführt. Zudem konnten um die Jahreswende 1967/68 Verschärfungen des politischen Strafrechts beobachtet werden. Dass in Heins Roman die Verurteilung eines harmlosen Bürgers wegen Verunglimpfung des Staatsführers Gegenstand ist, ist wohl pure Absicht des Autors. In jener Zeit nach dem Einmarsch in die CSSR wurden viele Arbeiter wegen "staatsfeindlicher Aktivitäten" festgenommen und später wieder freigelassen, danach aber vom Staatssicherheitsdienst dauerhaft observiert und schikaniert. "Der Tangospieler" - eine Anspielung darauf?
Ruhiger, überzeugter Sprachstil
Christoph Heins Sprachstil überzeugt. Ruhig und aufgeräumt führen seine Sätze über die Seiten, in einem angenehmen Verhältnis zwischen Erzählung und Dialogen. Ein typischer Spannungsbogen fehlt, die Geschichte, eingeteilt in fünf grosse Kapitel, plätschert so dahin. "Der Tangospieler" ist keine hochstehende Literatur, keine virtuose Sprachkomposition, doch man erkennt schon an den ersten Formulierungen, dass Hein triviale Ausdrucksformen fremd sind. Hein will auch nicht unterhalten. Er sieht sich selbst als Dramaturg. Doch sind es seine Prosawerke, die die Literatur seines Landes nachhaltig verändert haben.