April 2024

Der Tangospieler
Christoph Hein


Roman
Luchterhand Literaturverlag, 217 Seiten
Ersterscheinung 1989



Mit dem Erwerb dieses Buches verbindet mich eine aussergewöhnliche Begebenheit. Als ich es vor einigen Monaten aus der Bücherwand einer Gebrauchtbuchhandlung zog, fand ich an anderen Stellen des Regals noch zwei andere Bücher. Ich prüfe immer, ob auf der ersten Seite persönliche Widmungen stehen, und so entdeckte ich in allen drei Büchern denselben Ex-Libris-Stempel des Vorbesitzers. Allein schon deshalb entschied ich mich für den Kauf der drei Bücher. Eine spätere Suche auf Google nach dem Namen ergab, dass es sich bei dem Vorbesitzer um einen ehemaligen Schulrektor und Institutsleiter einer pädagogischen Hochschule handelte und dieser vor einigen Jahren verstorben war. Seine Bücher waren wohl in die Bücher-Brocky gebracht worden. Aber dass ich gleich drei davon willkürlich aus dem Regal ziehe, grenzt schon an ein kleines Wunder.


"Der Tangospieler" ist Christoph Heins achtes Prosawerk, nachdem er seit Beginn seines kreativen Schaffens auch Kinderbücher, Erzählungen, Kurzgeschichten, Novellen, Theaterstücke, Kammerspiele und Essays veröffentlicht hat. Hein wuchs in der ehemaligen DDR in einer kleinen Stadt nördlich von Leipzig auf, und weil er als Sohn eines Pfarrers kein Arbeiterkind war und keinen Platz an einer erweiterten Oberschule bekam, besuchte er vor dem Mauerbau drei Jahre lang ein humanistisches Gymnasium in Westberlin, arbeitete nach dem Mauerbau unter anderem als Buchhändler, Montagearbeiter und Kellner, und studierte später in Leipzig und Ostberlin Philosophie und Logik. Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass in dem Buch "Der Tangospieler" Kellner eine nicht unwesentliche Rolle spielen, dass der Protagonist bei einem Kneipenbesuch von Tischnachbarn als Philosoph erkannt werden will, und dass seine Liebschaft, die er an einsamen Abenden gelegentlich aufsucht, in einer Buchhandlung arbeitet. Auch die Überqualifizierung des Protagonisten Dallow bei der Jobsuche als Kraftfahrer mag auf die Ausbildung und Berufserfahrungen Heins hindeuten.
Der Ort der Handlung ist Leipzig, die Geschichte spielt 1968 und wird wahrheitsgemäss aufgezeichnet, schrieb Christoph Hein damals in einer Ankündigung seines neuen Romans, der 1989 im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, erschien. Inwiefern es sich hier tatsächlich um eine wahre Geschichte handelt oder Hein mit wahrheitsgemäss lediglich die realitätsgetreue, vielleicht etwas untertriebene Abbildung des sozialistischen Ostdeutschlands aus jener Zeit meinte, ist unklar. Die Buchrechte für die damalige BRD, West-Berlin, Österreich und die Schweiz lagen beim Luchterhand Literaturverlag. Die Geschichte wurde 1991 in einer deutsch-schweizerischen Produktion verfilmt. Gelesen habe ich die gebundene, fadengeheftete Ausgabe in zweiter Auflage von 1989, die heute nur noch antiquarisch zu finden ist.

Aber das Gefängnis hatte ihn entlassen, diese Vergangenheit war beendet worden, von ihr aus konnte er keine Linien bis zu jenem grossen und leeren Bogen Papier ziehen, auf dem seine Zukunft sich darstellen würde. (...) "Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft", sagte er laut. Und dann lächelte er, weil er sich erinnerte, diesen Satz schon mehrfach in seinen Vorlesungen und Seminaren gesagt zu haben, damals, in jener Vergangenheit, die hinter seiner Vergangenheit lag. (S. 41)
Dr. Hans-Peter Dallow, Historiker und Oberassistent an der Universität, Spezialfach "Neunzehntes Jahrhundert, Anfänge der Arbeiterbewegung", erst sechsunddreissig Jahre alt und schon ein alter Mann, jedenfalls so alt, dass er den ganzen Tag darauf wartet, wieder ins Bett zu kommen, wird nach einundzwanzig Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen und muss feststellen, dass er nicht mehr in sein altbewährtes Leben zurückfindet. Ein Leben, in dem er gleich einer Spielzeuglokomotive namens Dallow gleichmütig dem geradlinigen und doch in einer Endlosschlaufe angelegten Schienenstrang Tag ein Tag aus gefolgt war. Seine Verurteilung sei ein Unfall gewesen, so zumindest Dallows Interpretation, man hatte ihn verhaftet, nachdem er als Pianist an der Premiere eines Studentenkabaretts kurzfristig eingesprungen war und der Liedtext, den er in der kurzen Probezeit nicht beachtet hatte, den greisen Führer des Staates verspottete. Alle Studenten des Kabaretts wanderten mit ihm in den Bau. Doch er war nur derjenige, der den Tango musikalisch begleitet hatte.


Dallow kehrt in eine leere Wohnung zurück, seine Freundin hat ihn schon während seiner Haft verlassen. Seine Arbeit am Historischen Institut kann er nicht wieder aufnehmen, seine Dozentenstelle wird nun von Rössler besetzt, den er nie gemocht hat. Nun hängt er in seinem Stammcafé herum, besucht Nachmittagsvorstellungen im Vorstadtkino und pickt zu später Stunde in Nachtlokals Frauen auf, bei denen er die Nacht verbringt. Überall stösst Dallow auf Abwehr, am Institut, bei seinem Nachbarn Stämmler, selbst als er seine Eltern auf ihrem Hof besucht, hat der Vater für seinen Sohn nur Verachtung übrig, obwohl Dallow ihm die fadenscheinigen Gründe seiner Verurteilung näherzubringen versucht. Vorwürfe lösen Gegenvorwürfe aus, Dallow kontert, es seien ja die Eltern gewesen, die ihn in den Klavierunterricht geschickt hätten.

"Sie sind seit einem Vierteljahr aus dem Strafvollzug entlassen, Herr Doktor Dallow", sagte er schliesslich. "Wollen Sie nicht eine Arbeit aufnehmen? Das ist nicht Ihre Privatangelegenheit, lieber Herr Doktor Dallow. Wie Sie wissen, verstossen Sie damit gegen Moral und Normen unseres gesellschaftlichen Lebens. Es gibt dafür sehr hässliche Worte." "Arbeitsscheu? Asozial?", erkundigte sich Dallow zuvorkommend. Schulze nickte und sagte: "Ich biete Ihnen nochmals unsere Hilfe an." (S. 157/158)

Doch auch Dallow kann nicht vergessen, will sich von den Herren Richter und Strafverteidiger rehabilitiert sehen, weist strikt alle dargebotenen Hände höhnisch ab, und entwickelt sich zum klassischen Nein-Sager. Das ist der erste Punkt, der seine Person nicht unbedingt sympathisch erscheinen lässt. Ja, Erinnerungen an die Zeit in der Zelle machen ihm zu schaffen, lösen ambivalente Gefühle in ihm aus. Ja, er kommt mit seinem Leben nicht mehr zurecht. Dallow ist ein Antiheld, was ihn menschlich macht, er sehnt sich nach der Geborgenheit und Einfachheit des Alltags in der Zelle, in der keine Entscheidungen zu treffen waren, wacht nachts von Panikattaken ergriffen schweissgebadet auf und glaubt, die Zeit renne ihm davon. In erregten Zuständen beginnt seine rechte Hand zu zittern und verkrampft sich, was Folgen hat, denn als er den Richter eines Nachts bis in den Park verfolgt, um mit ihm zu reden, verschliesst sie sich um den Hals des Richters, der daraufhin ein Druckmittel in der Hand hat. Dallow soll endlich eine Arbeit finden, ansonsten dieser Übergriff gegen ihn verwendet werde. 


In keinem Moment bietet Dallow dem Leser Angebote zur Identifikation. Sein zweiter, unvorteilhafter Zug ist seine Einstellung zu Frauen. Für Dallow sind sie nichts anderes als ein Mittel zum Zweck - ein Mittel, seine Lust zu befriedigen, was ihn selbst anwidert. Aufgrund ihres Aussehens stuft er sie ein, will sie sich nach seinen nächtlichen Abenteuern gar nicht ansehen. Binden will er sich schon gar nicht, Diskussionen vermeiden, sich morgens am liebsten schweigend aus dem Staub machen. Dass er schon vor seiner Inhaftierung kein Unschuldslamm gewesen sein muss, lassen seine billigen Annäherungsversuche bei seinen ehemaligen Arbeitskolleginnen des Instituts vermuten, die sich das gefallen lassen. Als er der alleinerziehenden Elke dann doch näherkommt, ihr sogar vorschlägt, bei ihm einzuziehen, will sie nichts von ihm wissen. Erst soll er mit sich selbst ins Reine kommen. Seine Gleichgültigkeit erreicht ihren Höhepunkt, als ihn der Weinkrampf eines Mädchens aufgrund der in der Tschechoslowakei passierenden Vorfälle erregt und ihm nichts Besseres einfällt, als erneut mit ihr zu schlafen. Was soll man dazu sagen?


Dallow ist sich bewusst, dass er den Rest seines Lebens nicht untätig herumhängen kann. Auch würden ihn seine Finanzen nur ein Jahr über Wasser halten. Seine Arbeitsuche als Kraftfahrer endet überall, wo er sich vorstellt, erfolglos, obwohl die Betriebe Kraftfahrer suchen. Dallow vermutet eine Verschwörung. Auch wird er bei einer Autofahrt grundlos von einer Streife angehalten und verzeigt. Dallow geht davon aus, dass die beiden Herren Schulze und Müller, die ihn nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in ein spärlich eingerichtetes Arbeitszimmer im Gerichtsgebäude einladen und ihm Hilfe anbieten, wenn er ihnen ebenfalls hilft, mit diesen Vorfällen zu tun haben. Die beiden tauchen immer wieder auf, um Dallows historisches Wissen für ihre Machenschaften, die im Dunkeln bleiben, zu gewinnen.


Einzig zu Harry, dem Kellner in seinem Stammcafé, unterhält Dallow eine kollegiale Beziehung. In diesem Lokal hatte Dallow früher Auftritte als Pianist. Harry sorgt mit seinen Beziehungen dafür, dass Dallow eine Anstellung als Kellner in einer Gaststätte auf der Insel Hiddensee in der Ostsee erhält. Dort angekommen, entwickelt sich Dallow schon bald zum Ärgernis des Personals. Rasch spricht es sich unter den jungen Studentinnen herum, dass hier ein Kellner arbeitet, der immer ein Bett frei hat. Die sich zuspitzenden militärischen Ereignisse in Prag - im Buch erfahren wir nichts davon, denn Dallow interessiert sich nicht mehr für das politische Geschehen -, der Einmarsch sowjetischer wie auch ostdeutscher Truppen in Prag, entscheiden indirekt schlussendlich über das weitere Schicksal unseres Protagonisten, das man als Leser am Ende irgendwie gleichgültig hinnimmt.

"Ich verstehe", sagte Schulze. "Ich verstehe, weshalb man Sie nirgends haben wollte. Für einen Kraftfahrer sind Sie überqualifiziert. Warum soll ein Betrieb einen Wissenschaftler als Kraftfahrer einstellen? Man will keinen Ärger haben. Und wenn ein promovierter Historiker als Kraftfahrer arbeiten will, das riecht förmlich nach Ärger. Da haben Sie den Grund, nach dem Sie fragen (...)" "Und Sie? Wozu benötigen Sie mich?" "Sie sind Historiker. Sie kennen die tschechische und slowakische Geschichte. Sie sind für uns von Interesse, gerade in dieser Zeit." (S. 159)

Es sind die Bilder aus jener Zeit Ende der sechziger Jahre in der DDR, die das Buch zu einer besonderen Leseerfahrung machen. Eine zweite Lektüre würde gewiss noch tiefere Einblicke gewähren. Was subtil wahrgenommen werden kann, ist die unterkühlte Atmosphäre, die Hein durch eine Untertreibung des Geschilderten entstehen lässt. Understatement pur, wie im Klappentext steht. Das nicht Erwähnte, nicht Überzeichnete, im Hintergrund sich Abspielende und Bedrohliche ist stets präsent. Nicht weil Februar ist und Schnee liegt und viele Wohnungen nicht geheizt sind, irren wir mit Dallow durch ein kaltes Leipzig, sondern weil das Fremde und das latent Kontrollierende in den Strassen wacht.


Im Februar 1968, nämlich genau zu dem Zeitpunkt, wo die Geschichte des Tangospielers beginnt, wurde in der DDR die neue sozialistische Verfassung veröffentlicht und im April bereits eingeführt. Zudem konnten um die Jahreswende 1967/68 Verschärfungen des politischen Strafrechts beobachtet werden. Dass in Heins Roman die Verurteilung eines harmlosen Bürgers wegen Verunglimpfung des Staatsführers Gegenstand ist, ist wohl pure Absicht des Autors. In jener Zeit nach dem Einmarsch in die CSSR wurden viele Arbeiter wegen "staatsfeindlicher Aktivitäten" festgenommen und später wieder freigelassen, danach aber vom Staatssicherheitsdienst dauerhaft observiert und schikaniert. "Der Tangospieler" - eine Anspielung darauf?


Christoph Heins Sprachstil überzeugt. Ruhig und aufgeräumt führen seine Sätze über die Seiten, in einem angenehmen Verhältnis zwischen Erzählung und Dialogen. Ein typischer Spannungsbogen fehlt, die Geschichte, eingeteilt in fünf grosse Kapitel, plätschert so dahin. "Der Tangospieler" ist keine hochstehende Literatur, keine virtuose Sprachkomposition, doch man erkennt schon an den ersten Formulierungen, dass Hein triviale Ausdrucksformen fremd sind. Hein will auch nicht unterhalten. Er sieht sich selbst als Dramaturg. Doch sind es seine Prosawerke, die die Literatur seines Landes nachhaltig verändert haben.

Er dachte viel über sich nach. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie tief ihn die Suche nach Arbeit und die Zurückweisungen wirklich gekränkt hatten. In diesen vierzehn Tagen war etwas mit ihm geschehen, wogegen er sich in den zwei Jahren seiner Haft energisch und erfolgreich gewehrt hatte. Erst die zweifelhaften, unbegründeten und sein Misstrauen erregenden Ablehnungen schienen nun sein Selbsbewusstsein nachhaltig verstört zu haben. Er empfand Selbstmitleid, was ihm unangenehm und widerlich war, doch konnte er sich nur mangelhaft gegen dieses Gefühl wehren. (S. 132)
Das Buch ist im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch erhältlich. Gebundene Ausgaben müssen im Gebrauchtbuchhandel gesucht werden.

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