Gelesen im November 2022

Des Nachts
Richard Bausch


Luchterhand Literaturverlag, 381 Seiten
Ersterscheinung 1998


Die Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Titel "In the Night Season" bei HarperFlamingo. Aus dem Amerikanischen wurde das Buch im Jahr 2000 von Sabine Roth in die deutsche Sprache übersetzt und im Luchterhand Literaturverlag veröffentlicht. Inwiefern diese Übersetzung gelungen ist, kann ich nicht beurteilen - das kann ich bei keiner Übersetzung fremdsprachiger Autoren, da ich die Originalfassungen nicht lese - deshalb ist für mich die deutsche Fassung immer auch Grundlage für die Beurteilung des Buches selbst. Übersetzungen sollten ja möglichst authentisch sein. Als ich vor kurzem zwei verschiedene Übersetzungen von "Tom Sawyer" angelesen hatte, musste ich feststellen, wie unterschiedlich diese sein können. In der Regel ist es auch so, dass nicht mehrere Übersetzer ans Werk gehen, dies kennen wir eher bei Klassikern der Weltliteratur. "Des Nachts" ist kein solcher Klassiker, dafür umso mehr ein hervorragender Thriller. Der Luchterhand Literaturverlag verwendete für die Umschlaggestaltung das Gemälde "River Valley" von Andrew Wyeth, das perfekt zur Geschichte passt, und durch das leicht gerillte Umschlagpapier liegt das Buch angenehm in der Hand. In dieser Ausgabe und Gestaltung ist es heute nur noch in Antiquariaten und Secondhand-Buchhandlungen zu finden, falls überhaupt.


Auf eine spezielle Eigenschaft meines Buchexemplars möchte ich noch hindeuten. Hierfür wurde bei der Herstellung wohl irrtümlich unterschiedliche Papierqualität verwendet. Man sieht das auf der Abbildung weiter unten. Die letzten vierzig Seiten des Buchblocks sind heller und nach über zwanzig Jahren Regal und Lichteinwirkung weniger stark in Mitleidenschaft gezogen. Das sollte eigentlich nicht sein. Gerade deshalb finde ich es aussergewöhnlich, ein solches Exemplar in meinem Regal stehen zu haben.
Richard Bausch gibt seinen Kapiteln Überschriften und gliedert sein Buch in vier Teile, obwohl ich finde, dass diese Gliederung inhaltlich nicht notwendig ist, denn die Geschichte schreitet konstant voran. Und wäre sie nach hundert Seiten schon zu Ende, würde ich sagen, sie hat noch gar nicht richtig begonnen. Das ist nicht negativ gemeint, denn mit beginnen meine ich das, was mir von der ersten Lektüre vor über zwanzig Jahren noch vage in Erinnerung ist: jene Sensibilität zwischenmenschlicher Interaktionen, Nuancen von Befindlichkeiten in bedrohlichen, ausweglos scheinenden Situationen, wenn jemand von Fremden in seinem eigenen Haus gefangen gehalten wird. Verständlicherweise will der Autor die Geschichte aufbauen, etwas ausholend vielleicht, was man nur wissen kann, wenn man das Buch schon einmal gelesen hat. Eine Ausnahme bildet im ersten Teil ein Kapitel, das bereits diese Feinfühligkeit erkennen lässt, als der kleine Jason auf dem Dachboden dem Einbrecher begegnet und nach einer ersten Annäherung - durch authentische und nachvollziehbare Dialoge geschildert - durch den Lüftungsschacht im Haus fliehen kann.


"Na also", sagte der Mann, indem er ihn auf die Füsse stellte und an den Armen festhielt. "Ganz schöner Brocken bist du. Und das vor dem Stimmbruch." Jason schwieg. "Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tu dir nicht weh, wirklich." "Sie tun mir doch schon weh." Die Hände fielen herunter, und der Mann trat einen Schritt zurück. "Siehst du?". Er streckte ihm wieder die Hand hin. "Ich heisse Travis. Hab ich ja schon gesagt. Und du bist Jason. Wie alt bist du, Jason?" "Was wollen Sie hier?", fragte Jason. "Sag mir, wie alt du bist, Junge." "Ich brauch Ihnen überhaupt nichts sagen." "Jetzt komm, hab ich dir irgend etwas getan?" Jason stand nur da.  (Seite 61)



Das Buch ist stellenweise etwas langatmig auf den ersten hundert Seiten, obwohl mich das nicht stört; obwohl mir die fliessende, präzise Erzählkunst des Autors zusagt. Etwas ausführlich jedoch werden Figuren beschrieben, die letztlich Nebenfiguren bleiben, was man in dem Moment natürlich noch nicht weiss. Wie zum Beispiel Bishop, der freundliche und hilfsbereite Nachbar, der für die Einwohner des Orts Fernseher und Videorecorder repariert, der nachmittags auf den kleinen Jungen der Nachbarin aufpasst, während diese arbeiten muss. Man kann ohne zu spoilern vorwegnehmen, dass er den Verbrechern zum Opfer fällt. Trotzdem werden im Vorfeld Bishops Familienverhältnisse beleuchtet. Vielleicht ist dies Absicht des Autors. Vielleicht möchte der Autor damit auch andere Themen aufgreifen, wie hier die des Rassismus, denn Bishop ist Schwarzer und gehört in dem kleinen Ort einer Randgruppe an, einer Minderheit von Einwohnern, die von einer rassistischen Gruppierung namens Virgina Front Drohbriefe erhält. Den Ermittlungen in dieser Angelegenheit folgt anfänglich auch die Geschichte, dieser Plot gerät dann aber in den Hintergrund, da er für das, was Bausch eigentlich erzählen will, gar nicht massgeblich ist.
Am Anfang dachte ich, dass auch Polizeiinspektor Shaw eine dieser Nebenfiguren ist, doch er taucht im zweiten Teil des Buches wieder auf und entwickelt sich zu einer wichtigen, leidenden Figur durch die Ermittlungen des Falls. Travis, einer der Verbrecher, scheint anfänglich ein anständiger, beinahe verständnisvoller Kerl zu sein, der aber handgreiflich werden kann, wenn er gereizt wird. Später jedoch legt er sehr manipulative Züge an den Tag. Etwas ambivalent erscheint mir seine Bereitwilligkeit, mit der er seinem Opfer Nora während einer Autofahrt die gesamten Hintergründe des Verbrechens offenbart. Nebensächlich ist die Skizzierung des Farmers Lombard, dessen Kühe und Stiere einem Amoklauf zum Opfer fallen. Es sei denn, Bausch möchte hier die Unberechenbarkeit und Stumpfsinnigkeit eines der beiden Verbrecher deutlich machen, der diese Tat aus purer Langeweile auf dem Gewissen hat, oder Detective Shaw eine Spur legen, die ihn letztlich zu den Verbrechern führt, die Nora und den Jungen aus ganz anderen Gründen gefangen halten.


"Des Nachts" ist ein klassischer Spannungsroman. Ein Psychothriller, der beim Wesentlichen bleibt. Es will etwas heissen, den Leser bei der Stange zu halten, wenn dieser einen Wissensvorsprung hat, wenn er bereits weiss, was passiert ist, während der ermittelnde Detective im Dunkeln tappt. Das geht nur, wenn man woanders Tiefe schafft. Im Klappentext steht, dass Richard Bausch seine unterschiedlichen Charaktere und das von Vorurteilen und Anonymität geprägte Leben in einer amerikanischen Kleinstadt virtuos zeichnet. Mit einer psychologischen Feinheit, die ihresgleichen sucht. Das kann ich bestätigen. Nuancen und subtile Zwischentöne sind Bausch wichtiger als Action und Effekthascherei. Mit einem Sinn für Sensibilität zeigt er, wie Menschen reagieren, wenn ihnen der Boden unter den Füssen weggezogen wird.


Genau das ist es, was mich fasziniert bei diesem Buch, was mich motiviert, weiterzulesen. Nicht die Neugier, wie der Fall nun gelöst wird oder ob die Verbrecher gefasst werden. Mir gefällt die Art, wie der Autor bedrohliche Situationen voller Angst und Schrecken zu zeichnen weiss, und wie sich seine Opfer im Laufe der Geschichte entwickeln. Bausch versteht seine Charaktere, obwohl manchmal auch etwas die konstruierte Handschrift eines Creative Righters erkennbar ist, wenn einfach zuviel Informationen für Nebenfiguren investiert oder Sachverhalte geschildert werden. Das Buch hätte auch um hundert Seiten kürzer sein können, es hätte nichts an seiner atmosphärischen Dichte verloren.
Richard Bausch wechselt zwischen drei Handlungssträngen - dem Hauptplot mit der Gefangenhaltung von Nora Michaelson und ihrem Sohn Jason durch die beiden Brüder Travis und Bags und deren Boss Reuther; dem Erzählstrang über die Ermittlungen von Detective Shaw und dessen gescheitertem Privatleben; und dem Schauplatz in Seattle, wo Noras Eltern in ihrem eigenen Haus von einem Komplizen der Verbrecher festgehalten werden. Man begreift bald, dass er derjenige sein könnte, der einknickt, falls die Geschichte diesen Lauf nehmen sollte. Eigentlich sind es vier Schauplätze, nachdem sich die drei Verbrecher aufteilen und Nora dazu drängen, mit Travis zusammen in ihrem eigenen Haus nach einer bestimmten Ware zu suchen, die ihr tödlich verunglückter Ehemann, dessen Doppelleben immer mehr ans Tageslicht rückt, zurückgelassen haben soll. Ihr elfjähriger Sohn Jason ist in einem anderen Gebäude eingesperrt und den unberechenbaren Launen Bags' ausgesetzt.


Ein sehr gelungenes Kapitel ist meines Erachtens "Angst vor der Dunkelheit", das uns eine hervorragende Darstellung des kleinen Jason präsentiert, ein Bild, das erkennen lässt, wie zerbrechlich der Kleine ist, wie sehr ihm sein Vater fehlt und wie heftig ihn der Übergriff der Eindringlinge beutelt. Denn schon früher, als seine Welt noch intakt war und der Vater noch lebte, wenn er des Nachts aus dem Schlaf erwacht, ängstigt ihn die Dunkelheit, und es ist der Vater, der an sein Bett kommt und ihn auffängt, wenn der Junge in die tiefe Schwärze fällt, wenn er keinerlei innere Reserven in sich fühlt und stattdessen nur anschwellende Angst, die ihn völlig ausfüllt und er kaum mehr die Luft ausstossen kann, die sein Brustkorb mit jedem krampfhaften Atemholen einsaugt. Wie sehr dem Jungen das Gefühl von Sicherheit fehlt, das er schon bei seinem Vater gesucht hat, zeigt auch der Umstand, dass er sich an den Nachmittagen, wo seine Mutter arbeitet, auf dem Dachboden einrichtet, der ihm einen schütztenden Raum bieten soll, und aus dem er durch den Einbrecher herausgerissen wird.


Unabhängig davon, was der Autor im letzten Drittel noch alles aus dem Hut zaubert zur Bereicherung eines spannenden Thrillers - es ist ebendiese Feinfühligkeit und der Sinn für das Menschliche, was das Buch für mich lesenswert macht. Die Dialoge wirken auf mich sehr lebensecht, nicht wie so oft in anderen Büchern, wo diese nur dem Übermitteln von Informationen dienen - obwohl auch hier, hauptsächlich in Kapiteln, die die Polizeiarbeit behandeln, gelegentlich die "amerikanische" Handschrift durchdrückt. Vielleicht sind wir hier von Hollywood vorbelastet. Dennoch, in "Des Nachts" erhalten die Personen Tiefe und Charakter durch ihre Worte. Oder anders ausgedrückt, man nimmt ihnen jedes Wort ab.


Jason lag im Obergeschoss zwischen Lumpen und Zeitungen und spürte vage, wie die Zeit aussetzte - einzelne, leere Momente, in denen der Schmerz schwächer wurde, die Qual verschwamm. So peinigend das Wachsein auch war, wehrte er sich doch mit aller Macht gegen den Schlaf, und immer wieder verlor er den Kampf. Ab und zu schreckte er hoch, so jäh, dass er einen Aufschrei unterdrücken musste. Er hörte das Auto, sah das Licht vor dem Fenster. Geräusche drangen aus dem Erdgeschoss herauf. Travis' Stimme. "Mom!" rief er. Und ihre Stimme tönte von der Treppe zu ihm. "Jason? Kind?" Ein kurzes Gerangel auf den Stufen, dann Stille. "Mom?" Nichts. Er versuchte sich zu bewegen. Seine Arme und Beine waren fast taub, obwohl durch Rücken und Hals bei der kleinsten Bewegung ein stechender Schmerz schoss. Es schien ewig zu dauern. Aber dann kam jemand die Treppe herauf.  (Seite 311)

Das Vorwort, das Richard Bausch für seine Geschichte ausgewählt hat, ist ein Zitat aus der Bibel. Man kann die Befindlichkeit der Mutter und ihres Sohnes in Des Nachts nicht treffender umschreiben als mit dieser kurzen Bibelstelle aus Hiob 30, 15-17. "... Des Nachts bohrt es in meinem Gebein, und die Schmerzen, die an mir nagen, schlafen nicht". Wer den Ausgang der Geschichte nicht erahnt haben möchte, sollte hier nicht weiterlesen. Die beiden machen in der Tat das Furchtbarste durch, traumatische Erlebnisse, die sie für den Rest ihres Lebens prägen werden. Erlebnisse, die Mutter und Sohn wieder zusammenführen sollen, nachdem sie sich nach dem Verlust des Vaters und Ehemanns aus den Augen verloren haben, obwohl jeder auf seine Weise damit zu kämpfen hat, im Leben wieder Fuss zu fassen und dem Heranbrechen des Tages ohne Angst und Mattigkeit zu begegnen.


"Es wird nie richtig weggehen, oder?" "Nein", sagte sie. Zwecklos, ihm etwas vorzulügen. (...) Eine Pause, dann sagte er: "Ich hab's getan. Ich bin raufgegangen und hab rausgeschaut." "Und was hast du gesehen?" fragte sie ihn. "Nichts. Die Wiese." Sie kniete nieder und schlang die Arme um ihn. "Schau noch mal hin, Spatz", sagte sie. "Siehst du?" Sie zeigte auf den mattrosa Schimmer am Horizont. "Siehst du's, Herzchen?" "Ja." "Was siehst du?" "Morgenrot", sagte er.  (Seite 381)



Das Buch wurde zuletzt im Goldmann Verlag im Taschenbuchformat herausgegeben. Neu wird es heute leider nur noch in der englischen Originalfassung bei Harper Collins als Taschenbuch verlegt und ist dort auch als eBook erhältlich.


Mehr Infos zum Buch auf www.lovelybooks.de