Januar 2024

Die Herren des Hügels
Niccolò Ammaniti


Roman 
C. Bertelsmann Verlag, 253 Seiten
Ersterscheinung 2001



Ich hatte "Die Herren des Hügels" vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal gelesen. Später besorgte ich mir dann irgendwann Ammanitis Roman "Du und Ich", weil mir sein Schreibstil, seine leise Art, Geschichten zu erzählen und Spannung aufzubauen, gefällt. Glücklicherweise blieb mir von "Die Herren des Hügels" kaum etwas in Erinnerung, denn sonst wäre die Geschichte jetzt beim zweiten Durchgang nur halb so spannend gewesen. Ich hatte ihren Ausgang komplett vergessen, weshalb das unerwartete Ende auch diesmal für mich völlig überraschend kam.


Meine Erstausgabe des C. Bertelsmann Verlags aus dem Jahr 2003 ist sehr ansprechend gestaltet, was mich damals zum Kauf bewegte. Schon die Abbildung mit den gelbgoldenen Kornfeldern unter grünem Himmel lässt die Sommerhitze spürbar werden, unter der die Einwohner des winzigen italienischen Dorfes in der Geschichte leiden. Das Buch ist heute nicht mehr in dieser Aufmachung erhältlich, selbst der ursprüngliche Titel "Die Herren des Hügels" wurde geändert beziehungsweise dem italienischen Originaltitel angepasst. Erst vor einem halben Jahr hat der Eisele Verlag den Roman im Taschenbuchformat neu aufgelegt, mit dem Titel "Ich habe keine Angst" – "Io non ho paura". Warum die deutsche Fassung von 2001 mit anderslautendem Titel erschien, ist mir nicht bekannt. Er passt aber genauso gut zur Geschichte, wenn nicht noch besser. Wer das Buch gelesen hat, weiss warum. Auf eine Neuübersetzung hat man vorteilhafterweise verzichtet. Ulrich Hartmann überträgt Ammanitis Werke in die deutsche Sprache.


Der aus Rom stammende Niccolò Ammaniti erhielt damals im Jahr 2001 für "Die Herren des Hügels" als bisher jüngster Schriftsteller, mit fünfundreissig Jahren, den renommierten Premio Viareggio Preis Italiens. Viele seiner Werke handeln von der Verwandlung gewöhnlicher Menschen in gewalttätige Kreaturen sowie den oft verzweifelten Versuchen des Einzelnen, sich gegen die Grausamkeiten anderer zu wehren. In "Die Herren des Hügels" ist es der neunjährige Michele, der eine schreckliche Erfahrung machen muss. In leisen Tönen beschreibt die Geschichte, wie Micheles Vertrauen in die Erwachsenenwelt und in seine eigenen Eltern zu bröckeln beginnt und am Ende des Tages verloren geht. Ganz auf sich gestellt, ohne die Möglichkeit eines rettenden Ankers, muss er einer ungewissen Zukunft entgegensehen und entwickelt durch diese Herausforderung Mut, Stärke und Verantwortungsgefühl.

Zwei Häuser auf der einen Seite, zwei auf der anderen. Und eine löchrige Schotterstrasse dazwischen. Es gab keine Piazza. Es gab keine Gassen. Was es gab, waren zwei Bänke in einer Pergola mit kleinen roten Trauben und einen Brunnen mit einem abschliessbaren Hahn, damit kein Wasser vergeudet wurde. Und ringsumher Kornfelder. Das Einzige, was sich dieser von Gott und den Menschen vergessene Ort verdient hatte, war ein schönes blaues Schild, auf dem in Grossbuchstaben Acqua Traverse stand.
(S. 44/45)

Schauplatz ist Acqua Traverse, eine kleine Siedlung irgendwo in Süditalien in den späten siebziger Jahren. Es ist Sommer, brütende Hitze legt sich über die ausgetrocknete Erde und die reifen Kornfelder. Der nächstgelegene Ort heisst Lucignano, wo die Einkäufe besorgt werden, ein fiktives Dorf vermutlich, denn es ist auf Karten nicht zu finden. Die Kinder wünschen sich den Schulanfang nach den langen Sommerferien sehnlichst herbei, die Zeit verteiben sie sich trotz der Hitze mit Spielen im Freien, Radfahren, und kleinen Wettkämpfen, bei denen der Verlierer zur Strafe immer etwas tun muss. Bei einem Wettlauf durch die Kornfelder verliert Michele das Rennen, da seine fünfjährige Schwester hinfällt und ihn so am Weiterlaufen hindert. Antonio, genannt der Totenkopf, Anführer der Bande, ein vorlauter Junge, dem sich alle unterwerfen, bestimmt die Aufgabe, worüber dann abgestimmt wird. Michele muss durch ein verfallenes Haus klettern, das die Kinder beim Wettlauf durch das Korn in einer Senke hinter einem Hügel entdecken. Dabei macht er eine schreckliche Entdeckung. Hinter dem Haus befindet sich ein verstecktes Erdloch, in dem, am Fuss angekettet, ein Junge liegt, verdreckt, hungrig und durstig, kaum noch Lebenskraft besitzend.

Ich machte mir Sorgen, denn einer wie Melichetti konnte auf dich schiessen, dich den Schweinen vorwerfen oder dir vergiftetes Wasser zu trinken geben. Papa hatte mir von einem in Amerika erzählt, der einen Teich mit Krokodilen besass, und wenn einer anhielt, um ihn um eine Auskunft zu bitten, liess er ihn ins Haus kommen, verpasste ihm einen Schlag auf den Kopf und warf ihn den Krokodilen zum Frass vor. Und als die Polizei gekommen war, hatte er sich nicht ins Gefängnis bringen, sondern von den Krokodilen zerfleischen lassen. Melichetti konnte sehr gut auch so einer sein.  
(S. 18)

Michele möchte seinen Eltern von dem Fund erzählen, findet aber nicht die passende Gelegenheit, woraufhin er beschliesst, die Entdeckung für sich zu behalten. Anfänglich treibt ihn nur die Neugierde zu dem geistig verwirrten und voller Angst steckenden Jungen, mit der Zeit freundet er sich aber mit ihm an. Als er in dem verfallenen Haus nach einem geeigneten Gegestand sucht, um in das Loch zu steigen, findet er einen Milchtopf, den er wiedererkennt, und der zuhause in der Küche seiner Mutter fehlt. Michele kann sich zunächst keinen Reim darauf machen, realisiert aber, dass er seinen Eltern nicht mehr trauen kann, da sie offenbar etwas mit dem Versteck des Jungen zu tun haben.


Dann quartiert sich ein fremder Besucher im Haus seiner Eltern ein - scheinbar ein Freund des Vaters aus dem Norden Italiens. Michele ist der Alte unsympathisch. Nachts kann er seltsame Gespräche der Erwachsenen mithören, die im Wohnzimmer abgehalten werden, und als er heimlich durch den Türspalt im Fernsehen das Bild des Jungen erkennt, ergibt plötzlich alles einen Sinn. Es geht um Entführung, um Lösegeld, und nicht nur seine Eltern scheinen in den Fall verstrickt zu sein, auch die anderen Erwachsenen der Siedlung. Michele bekommt es mit der Angst zu tun. Seine Phantasien gehen mit ihm durch, in der Nacht plagen ihn Alpträume, Bilder von Monstern, Werwölfen, Hexen und Gespenstern, vom Tod des Jungen, geistern ihm durch den Kopf. Sein Papa sagt ihm, er müsse nicht vor Monstern Angst haben, sondern vor den Menschen. Eine Aussage, die sich bitter bewahrheitet.

Als Michele sich eines Tages wieder zum Hügel begibt, um dem Jungen Essen zu bringen, wird er von Felice, dem älteren Sohn eines Nachbarn, erwischt. Felice scheint mit der Aufgabe betreut worden zu sein, das Versteck im Auge zu behalten. Er bringt Michele zu seinen Eltern, die von nun an wissen, dass ihr Sohn von dem entführten Opfer Kenntnis hat. Micheles Verzweiflung einerseits und die Zerissenheit der Eltern andererseits - ihnen scheinen die Hände gebunden zu sein, sie finden nicht den Zugang zu ihren beiden Kindern -, weiss Ammaniti einfühlsam in Szene zu setzen. Micheles Fragen werden nicht nur nicht beantwortet, es wird ihm auch noch verboten, den Jungen weiterhin aufzusuchen, ansonsten dieser getötet werde.

Der Schrei eines Käuzchens, das Bellen eines Hundes in der Ferne. Es war still. Doch ich hörte trotzdem ihr Tuscheln in der Finsternis. Ich stellte sie mir am Wegrand vor, kleine Wesen mit Fuchohren und roten Augen, die mich beobachteten und untereinander sprachen. (...) Und dahinter waren die Herren der Hügel, die Riesen aus Erde und Ähren, dir mir folgten und nur darauf warteten, dass ich von der Strasse abkam, um über mich herzufallen und mich unter sich zu begraben. Ich hörte ihren Atem. Sie machten das gleiche Geräusch wie der Wind im Korn. (Seite 233/234)

Ich stell mir vor, dass das Erzählen aus der Perspektive von Kindern kein Leichtes ist. Kinder denken anders, reden anders, nehmen die Welt mit anderen Augen wahr. Umso befreiter und reicher scheint ihr Innenleben. Um der Wahrnehmung eines Kindes sprachlich gerecht zu werden, ohne ein Kinderbuch schreiben zu wollen, braucht es viel Fingerspitzengefühl und Identifikationsvermögen, und nicht zuletzt die Fähigkeit der Rückbesinnung. In meinem Beitrag über "Herr der Fliegen" (mag der deutsche Titel von Ammanitis Buch an Goldings verstörenden Roman angelehnt sein?) fragte ich mich, ob Golding in seinem Kinderabenteuer immer aus dem Bewusstsein von Kindern zu schreiben vermag. Bei Ammaniti bestehen darüber überhaupt keine Zweifel. Im Gegenteil. 


Ammaniti lässt seinen Protagonisten die schrecklichen Ereignisse durch Kinderaugen wahrnehmen - naive, unschuldige Reflektionen, eingefärbt durch Ängste, Phantasien und Ungewissheit. Er lässt ihn in einer Sprache sprechen, die beiden Welten gerecht wird, der des neunjährigen Michele, und jener des erwachsenen Lesers. Wir lesen kein Kinderbuch, sondern fesselnde und flüssig formulierte Prosa, so geschrieben, dass wir uns gänzlich mit dem Erzähler identifizieren können. Zahlreiche Dialoge lassen die Figuren lebendig werden. Formulierungen, die für einen Neunjährigen zu anspruchsvoll klingen mögen, lassen sich dadurch erklären, dass der Autor aus der Retrospektive erzählen lässt, also aus der Sicht des bereits erwachsenen, 21-jährigen Michele, der sich an jene Kindheitstage in Acqua Traverse zurückerinnert. Und wenn wir am Ende der Geschichte, der sich wie ein fesselnder Hitchcock-Thriller liest, mit offenen Fragen zurückgelassen werden, dann erinnern wir uns an ebendiesen Umstand.

"Die Herren des Hügels" wurde im Sommer 2023 neu im Eisele Verlag herausgebracht - unter dem Titel "Ich habe keine Angst". Es gibt eine Taschenbuch- sowie eine eBook-Ausgabe. Im Hardcover ist das Buch nicht mehr erhältlich. 


Einen wunderbaren Beitrag zu dem Roman habe ich auf dem Bücherblog "Zeichen & Zeiten" von Constanze Matthes gefunden, den ich euch an dieser Stelle nicht vorenthalten möchte. Das Buch heisst dort bereits "Ich habe keine Angst".

Schreibe einen Kommentar