Dezember 2022

Die neuen Leiden des
jungen W.

Ulrich Plenzdorf


Roman
Hinstorff Verlag, 111 Seiten

suhrkamp taschenbuch, 148 Seiten
Ersterscheinung 1973



Ich weiss noch, wir mussten dieses Buch damals in der Handelsschule lesen. Und alles, was damals im Deutschunterricht zur Pflichtlektüre gehörte, war grundsätzlich schlecht. Warum? Weil wir glaubten, unsere Deutschlehrerin würde uns mit der Wahl der Lektüre ihre politische Gesinnung aufdrängen. Und zu diesen Büchern gehörte neben "Sansibar und der letzte Grund" eben auch "Die neuen Leiden des jungen W.", ein Roman aus der damaligen DDR vor der Wende. Ulrich Plenzdorf, damals Mitte dreissig, schrieb die Geschichte zuerst als Urfassung zu einem Film, da er als Szenarist im DEFA-Studio arbeitete, und nachdem sie abgelehnt wurde, als Prosatext. Der Hinstorff Verlag bot ihm dann die Veröffentlichung an, und Plenzdorf konnte diesen Prosatext in eine längere Form bringen. Die Geschichte wurde nach 1973 auch als Bühnenstück in der BRD und der DDR aufgeführt und später verfilmt.


Ich muss damals als Schüler ungefähr im selben Alter gewesen sein wie der siebzehnjährige Hauptprotagonist Edgar Wibeau und hätte die Geschichte eigentlich lieben müssen. Vermutlich hatte ich das auch, aber damals musste man natürlich gegen solchen Lesestoff sein. Später führte ich mir das Buch dann freiwillig noch einmal zu Gemüte, und ich erinnere mich, dass ich meiner damaligen Freundin sogar Ausschnitte aus dem Buch zitiert hatte.


Plenzdorf orientiert sich mit der Darstellung seiner Hauptfigur unter anderem an dem jungen Aussteiger Holden Caulfield aus Salingers Roman "Der Fänger im Roggen" und setzt das Ganze in den Rahmen von Goethes Klassiker "Die Leiden des jungen Werther". Ob ich später aufgrund von Plenzdorfs Erzählung auf Salingers Roman gestossen bin, weiss ich nicht mehr. Salingers Buch und Daniel Defoes Robinson Crusoe sind denn auch die einzigen beiden Bücher, die Edgar Wibeau, der Erzähler der Geschichte, zu seinen Lieblingsbüchern zählt. Obwohl Wibeau den Titel von Salingers Buch oder den Aussteiger Holden nie namentlich erwähnt, sondern immer nur in den höchsten Tönen vom Autor Salinger spricht.
Um den Schluss der Geschichte gleich vorwegzunehmen - Ulrich Plenzdorf tut es auch in seinem Buch; der junge Edgar Wibeau kommt bei einem tragischen Unfall, einer Stromsache, ums Leben. Daraus ergibt sich denn auch die Erzählstruktur des Buches. Edgar erscheint sozusagen als Geist, kommentiert, ergänzt und berichtigt aus dem Jenseits die Aussagen diverser ihm nahestehender Personen, die sich über ihn unterhalten und erhält so die Rolle des Erzählers, der sich direkt an den Leser wendet. Ein herrliches Schauspiel, in dem sich Dialoge dieser Personen mit Edgars Monologen abwechseln, wobei letztere natürlich meist die Sachlage korrigieren oder konkretisieren und auf witzige und saloppe Art und Weise Edgars Charakter hervorbringen. Eigentlich ist es Edgars Vater, der sich durch den Austausch mit anderen Personen erhofft, etwas mehr von seinem Sohn zu erfahren, den er zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen und der nun das Zeitliche gesegnet hat.


Nachdem Ed, wie ihn alle nennen, seine Berufslehre schmeisst, verlässt er sein Zuhause in Mittenberg und zieht nach Berlin, wo er unangemeldet eine zum Abriss stehende Laube seines Freundes Willi bezieht und dort vor sich hin gammelt. Auf dem Klo findet er das Heft "Die Leiden des jungen Werther", dessen Titelseite und Nachwort er als Klopapier missbraucht und den Roman innert drei Stunden durchliest. Über Tonbänder, die hin und hergeschickt werden, kommuniziert er mit seinem zuhause gebliebenen Freund Willi und zitiert dabei ausschliesslich den jungen Werther, was die Daheimgebliebenen ziemlich verwirrt, da niemand versteht, was Edgar eigentlich mitteilen will. Denn dieser weiss nicht mehr, was mit ihm geschieht - nämlich dasselbe wie dem jungen Werther, die Bekanntschaft mit einer Frau, eine unerfüllte Liebe letztlich, da sie sich einem anderen Mann versprochen hat. Edgar nennt sie Charlie, weil die Frau in Goethes Werk Charlotte heisst.

Wahrscheinlich hatten sie gemerkt, dass mir Charlie was sein konnte. Sie hätten auch blöd sein müssen. Ich himmelte Charlie die ganze Zeit an. Ich meine, ich himmelte sie nicht an mit Augenaufschlag und so. Das nicht, Leute. Ich hatte auch keine besonders umwerfenden Sehorgane in meinem ollen Hugenottenschädel. Richtige Schweinsritzen gegen Charlies Scheinwerfer. Aber braun. Braun popt, im Ernst.  
(S. 50)
Schon bald geht Edgar das Geld aus, und er heuert als Anstreicher in einer Tagelöhnerfirma an, die Häuser saniert. Eigentlich wäre er ja gerne Kunstmaler geworden, aber alle verkennen natürlich sein wahres Talent als Künstler. Es ist eine der amüsantesten Passagen im Buch, als Edgar bei dieser Firma zu arbeiten beginnt und sich absolut talentfrei seinen zugewiesenen Aufgaben widmet. Er treibt seinen Vorgesetzten Addi bis zur Weissglut mit seinen vorlauten und provokativen Aktionen, wird daraufhin gefeuert und bekommt den Job aber bald zurück. Ein kleiner Bootsausflug mit seiner Möchtegernliebe Charlie endet unglücklich, und das Bauen einer eigenen hydraulisch angetriebenen Farbspritze, die er Addi mit den Worten "Drück mal auf den Knopf da" hinschmeissen will, um sein Können zu beweisen, wird ihm schliesslich zum Verhängnis, als ihn, getrieben von Ehrgeiz und unter Zeitdruck unvorsichtig arbeitend, ein heftiger Stromschlag aus dem Leben reisst.


Die Sprache, die Plenzdorf seinem Protagonisten Edgar Wibeau gibt, steht Holden aus Salingers berühmtem Werk in keiner Weise nach. Eine witzige, trockene, hin und wieder etwas vulgäre Jugendsprache lässt den Leser durch die Seiten schmunzeln und manchmal laut vor sich hin lachen. Ich betrachte es als Kunst, sich literarisch in einen Siebzehnjährigen Jugendlichen zu versetzen, der von Ehrgeiz und überhöhtem Selbstbewusstsein nur so zu strotzen scheint, allen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen den Rücken kehrt und völlig verblendet vor Liebe allen Menschen, die ihm begegnen, auf sympathische Art und Weise richtig auf die Nerven geht. 
In einer vorlauten, stets überzeichneten Darbietung berichtet Edgar über seine Innenwelt, seine Erlebnisse und Leiden, die nie aufgesetzt oder konstruiert wirkt, sich durchzieht von der ersten bis zur letzten Seite und ihn originell und herzlich macht. Manchmal scheint es, als würde Edgar selbst nicht an das glauben, was er eigentlich von sich gibt, dennoch kommt es in einer so überzeugten Art und Weise an, dass man gar nichts hinterfragen möchte.

Anfangs in Berlin dachte ich oft daran, ebenfalls irgendwo eine Perücke aufzureissen, für die "grosse Melodie". Aber erstens liegen Perücken nicht einfach so auf der Strasse rum, und zweitens hatte ich einen geradezu teuflischen Haarwuchs. Ob das einer glaubt oder nicht - meine Haare wurden am Tag schätzungsweise zwei Zentimeter länger. Das war lange Zeit ein echtes Leiden von mir. Ich kam gar nicht wieder weg vom Friseur. Aber auf die Art hatte ich nach zwei Wochen schon einen annehmbaren Pilz.  
(S. 63)

Das Buch besticht durch den lockeren Erzählstil und durch den Aufbau, nicht durch die Handlung. Man gewinnt Edgar Wibeau lieb, schliesst ihn ins Herz, und wird, so zumindest meine Empfindung, am Ende genauso abrupt aus dem Buch genommen wie der Erzähler aus seinem Leben, und zurück bleibt etwas Wehmut. Am Ende werden wir Zeuge, wie Edgar seinen Mut verliert, nachdem er seine grosse Liebe nicht erreicht, und das Abbröckeln seiner rebellischen Fassade äussert sich, wie ich finde, in einer sanften Glättung des Erzählstils auf den letzten Seiten. Am Ende gesteht sich Edgar zu, immer schlecht im Nehmen gewesen zu sein und nichts eingesteckt haben zu können. Dies, und dass ihm eine Vaterfigur fehlt, was ein verkleideter Besuch in des Vaters Wohnung zeigt, oder Edgars Schlussfolgerung, dass auch "dieser Vater" sich irgendwo in einer Menschenmasse aufhält, die bei Ladenöffnung in einem Geschäft Jeans kaufen will; und nicht zuletzt der Umstand, bei Muttern immer der angepasste Musterknabe gewesen zu sein, erklärt den sanften Aussteiger und Rebellen.

Ich haute mich auf das olle Sofa und fing an zu husten. Nicht, dass ich krank war oder so, jedenfalls nicht wirklich. Ich hatte zwar Husten. Wahrscheinlich hatte ich mir den bei der Rumkramerei in der ollen Kolonie zugezogen. Vielleicht hätte ich auch anfangen müssen zu heizen. Aber ich hätte auch aufhören können zu husten. Bloss, ich hatte es mir so schön angewöhnt. Es machte sich hervorragend so. Edgar Wibeau, das verkannte Genie, an der selbstlosen Arbeit an seiner neuesten Erfindung, die Lunge halb weggefressen, und er gibt nicht auf.  Ich war ein völliger Idiot, ehrlich. (S. 110/111)
Das Buch ist in gebundener Ausgabe, als Taschenbuch, eBook und Hörbuch beim Suhrkamp Verlag erhältlich. Daneben gibt es zahlreiche Arbeitshefte, die den Text analysieren.

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