Gelesen im November 2023

Dshamilja
Tschingis Aitmatov


Erzählung
Suhrkamp Verlag, 123 Seiten
Ersterscheinung 1958

Es gibt kein anderes Buch, das ich so oft gelesen habe wie "Dshamilja".  Auf meinen beiden letzten Ferienreisen, die schon ein paar Jahre zurückliegen, hatte ich es immer bei mir. Nicht nur die angenehme Kürze der Erzählung, vor allem auch die Verträumtheit und Stille dieser "schönsten Liebesgeschichte der Welt", wie Louis Aragon in seinem Vorwort, das diesem Buch vorausgeht, bezeugt, ist Grund dafür, dass ich eine besondere Affinität zu dieser Erzählung entwickelt habe. Übrigens sollte man auch Louis Aragons lobendes Vorwort unbedingt lesen, aber erst nach der Lektüre, sollte man nicht schon zu viel im voraus erfahren wollen. Louis Aragon war ein französischer Dichter und Schriftsteller, der die Geschichte ins Französische übertragen hat.


Die 1958 entstandene Novelle war die Abschlussarbeit am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau des damals dreissigjährigen Tschingis Aitmatov und wurde erstmals in der Literaturzeitschrift Nowy Mir veröffentlicht. Es gibt zwei Übersetzungen ins Deutsche. Die ursprüngliche und für zahlreiche Auflagen und Neuausgaben des Insel- und Suhrkamp-Verlags verwendete Übertragung stammt von Gisela Drohla, die andere bekannte Übersetzung besorgte Hartmut Herboth. Ich habe immer nur die Version des Suhrkamp Verlags gelesen. Dieses Mal nehme ich zum Vergleich für gewisse Passagen auch die Übersetzung des Unionsverlags zur Hand und stelle fest, dass mir Gisela Drohlas Übertragung besser gefällt. Irgendwie drückt sie mehr Herzenswärme aus, weshalb ich bei meinem kleinen, roten, in Leinen gebundenen Büchlein bleibe.
"Dshamilja" ist eine Erzählung, die in der Tiefe berührt. Sie wird aus der Perspektive des heranwachsenden Said erzählt, wobei hin und wieder Formulierungen darauf hindeuten, dass der Ich-Erzähler heute bereits erwachsen ist und in Erinnerungen auf das Geschehene zurückblickt. Irgendwo habe ich auch gelesen, dass es sich um eine wahre Begebenheit handeln soll, die Aitmatov in seinem Debüt aufgenommen hat. Die Geschichte spielt im dritten Jahr des zweiten Weltkrieges, im Nordosten Kirgisiens, in einem Gebiet, das an Kasachstan angrenzt, zwischen der Kirgisenkette und der kasachischen Steppe, am Fluss Kukureu. Während die Dschigiten, so werden die jungen Männer und Elitereiter genannt, an der Front gegen die Deutschen kämpfen, arbeiten die Frauen, älteren Männer und Kinder auf den Feldern, ernten, dreschen und verladen das für die Soldaten lebensnotwendige Korn.


So auch Dshamilja. Um zu verstehen, in welcher Beziehung sie zu Said steht, muss erwähnt sein, dass Saids Vater eine zweite Frau geheiratet hat, deren Mann verstorben ist, denn nach strenger Tradition und Gesetz des Auls darf eine Witwe nicht allein gelassen werden. So kommt der junge Said zu einer zweiten Mutter, deren Söhne an der Front sind, und Dshamilja ist mit einem dieser Söhne verheiratet. Deshalb nennt Said sie "Dshene", Frau des älteren Bruders, und er selbst wird von ihr liebevoll "Kitschine bala" genannt, kleiner Junge, obwohl Said nur wenige Jahre jünger ist als sie. Said ist glühend in Dshamilja verliebt, und sie liebt auch ihn, so seine naive Wunschvorstellung. Als ich das Buch zum ersten Mal zu lesen begann, dachte ich, es handle vom Verliebtsein Saids in Dshamilja, was gewissermassen auch stimmt, denn der Fünfzehnjährige fühlt sich für seine "Dshene" verantwortlich und glaubt, sie vor anderen Männern schützen zu müssen, will er doch nicht, dass sie belästigt wird. Ausserdem ist sie bildhübsch, und mit seinen Gefühlen ihr gegenüber weiss er noch nicht richtig umzugehen.
Wie schön sie war! Welche Leidenschaft sprach aus ihrem Gesicht! Damals sah ich das alles nur wie im Traum, ich verstand es noch nicht ganz. Selbst heute noch stelle ich mir oft die Frage, ob die Liebe nicht eine Inspiration ist wie die Inspiration des Malers, des Dichters. Wenn ich Dshamilja ansah, war mir, als müsste ich in die Steppe hinauslaufen und mit lautem Schrei Himmel und Erde fragen, was ich tun sollte, wie ich diese unbegreifliche Unruhe und diese unbegreifliche Freude in mir bezwingen sollte. Und eines Tages fand ich die Antwort darauf.  (Seite 94/95)
Doch dann tritt Danijar in Dshamiljas Leben. Danijar ist vom Krieg mit einer Beinverletzung zurückgekehrt und im Aul aufgenommen worden. Allen begegnet er still und verschlossen, niemand kann sein Wesen erfassen, von allen wird er gemieden. Auch Said erinnert sich an Begegnungen mit Danijar, die ihn mit Fragen zurücklassen. Danijar übernachtet oft allein am Flussufer oder zieht sich auf einen Hügel zurück, wo sein versonnener und doch klarer Blick in die Ferne geht und er auf Laute zu lauschen scheint, die niemand sonst hören kann. Dshamilja lernt ihn kennen, als sie für die Arbeiten auf der Kolchose eingesetzt wird. Von nun an beladen Said, Dshamilja und Danijar gemeinsam ihre Pferdegespanne, fahren täglich über die Steppe und durch die Schlucht zur fernen Bahnstation, um dort ihre Kornsäcke abzuliefern und spät in der Nacht wieder zur Dreschtenne zurückzukehren, wo sie in der Scheune im Stroh übernachten.


Dshamilja und Danijar beginnen, Gefühle füreinander zu entwickeln. Heimliche, versteckte, denn Danijar ist scheu und zurückhaltend, und Dshamilja verheiratet. Das alles darf nicht sein, und um sich selbst zurückzunehmen, und aus ihrer lebensfrohen, stets zu Scherzen aufgelegten Natur heraus, hat Dshamilja anfänglich nur Spott für den Aussenseiter übrig, den dieser schweigend hinnimmt. Als ein harmloser Streich ernst und demütigend endet, scheint sie sich vor Scham noch mehr von ihm abgrenzen zu wollen. Doch dann beginnt Danijar eines Nachts auf der Heimfahrt zu singen, und diese Stimme, die voller Sehnsucht und Liebe durch die Stille der Steppe dringt, verändert alles.
Aber dann kam der Krieg, meine Brüder wurden Soldaten, und ich verliess die Schule und arbeitete auf der Kolchose wie alle meine Altersgenossen. Ich vergass Pinsel und Farben und glaubte nicht, dass ich je wieder daran denken würde. Aber Danijars Lieder hatten mein ganzes Wesen in Aufruhr gebracht. Ich ging wie im Traum umher und betrachtete die Welt mit so erstaunten Augen, als sähe ich alles zum ersten Mal. Wie auch Dshamilja sich plötzlich verändert hatte!  Sie lachte und scherzte nicht mehr wie früher, in ihren glanzlosen Augen war die stille Schwermut eines Frühlingstags.  (Seite 87/88)
Während dieser so liebliche Gesang, von dem sie Nacht für Nacht hingerissen sind, bei Dshamilja die Dämme brechen lässt, scheint Said, dem viel daran liegt, dass die beiden sich verstehen, die Liebe auf einer viel tieferen und universellen Ebene zu erfahren. Auf einmal versteht er Danijars Wesen, nimmt ihn als einen zutiefst verliebten Menschen wahr - verliebt in das Leben. Dshamilja hingegen kämpft mit ihrem Gewissen. Schon bald gibt sie Danijar zu verstehen, dass ein Zusammenkommen unmöglich scheint: "Was hast du denn? Oder begreifst du es wirklich nicht? ... Als ob ich die einzige auf der Welt wäre ... Für mich ist es auch nicht leicht." Dieses Bekenntnis, und ein Brief von Dshamiljas Mann, den ein heimgekehrter Soldat ihr überbringt, löst grösste Enttäuschung in Danijar aus. An jenem Abend kehren alle getrennt von der Bahnstation zur Dreschtenne zurück, und Dshamilja lässt bis spät in die Nacht auf sich warten. Dann kommt sie endlich, Danjiar ihre Liebe gestehend.
Seine Stimme ergriff von mir Besitz, sie verfolgte mich auf Schritt und Tritt; sie klang mir in den Ohren, wenn ich morgens durch den taunassen Klee zu den weidenden Pferden lief, wenn die Sonne hinter den Bergen emporstieg und mir entgegenlachte. Ich hörte diese Stimme auch im leise rauschenden goldenen Regen des Weizens, den die alten Männer beim Worfeln mit ihren Schaufeln gegen den Wind warfen, und im gleitenden Flug des einsamen Geiers hoch über der Steppe - in allem, was ich sah und hörte, meinte ich Danijars Lied zu vernehmen. Und abends, wenn wir durch die Schlucht fuhren, hatte ich jedesmal das Gefühl, als werde ich in eine andere Welt versetzt.  (Seite 84)

Die kurze Novelle ohne Kapiteleinteilung liest sich nahezu wie der Gesang Danijars, der in dem Buch ein zentrales Element darstellt. Während dies bei Dshamilja starke Gefühle für Danjiar auslöst und ihre persönliche Liebe zu ihm schürt, begegnet Said, Erzähler der Geschichte, einem Schlüsselerlebnis des Erwachens. Staunend, wie durch die Augen eines Kindes, verzückt und überwältigt von der Schönheit des Lebens, der Natur, und der Liebe der beiden, sieht er nunmehr jedem Tag entgegen. Ob es sich bei diesem Buch wirklich um die schönste Liebesgeschichte der Welt handelt, kann man gewiss hinterfragen, sofern man es vom Standpunkt der persönlichen Liebe zwischen zwei Personen aus beurteilt. Für mich jedoch wird hier nicht nur das subjektive Verliebtsein zwischen Dshamilja und dem tief in das Leben verliebten Danijar wundschön in Szene gesetzt, sondern auch die Erleuchtung Saids.


Said erlebt die Liebe in ihrer bedingungslosen Form, erfährt das Leben selbst, und diese Erfahrung inspiriert ihn zum Malen. Er möchte die beiden Verliebten malen, ihm fehlen sogar die richtigen Farben dazu, wie er am Ende der Geschichte erzählt. Und dass der Erzähler zum Zeitpunkt der Niederschrift diese Erfahrung erwachten Bewusstseins längst verinnerlicht hat, zeigt die Komposition der Geschichte, ihre Sprache, Art und Weise, wie die Natur wahrgenommen und beschrieben wird, der Prozess seines Verliebtseins, das Leben schlechthin. War er am Anfang noch ein unerfahrener Junge, erfährt er am Ende des Tages die Liebe des Lebens überhaupt, ohne je persönlich geliebt zu haben.


Für mich ist "Dshamilja in der Tat die schönste Liebesgeschichte der Welt. Ich werde dieses Buch immer wieder zur Hand nehmen, denn immer wieder begegnet man in diesen Zeilen erneut der Schönheit und der Liebe des Lebens. 

Der Sturm riss die Filzdecke von der Jurte, sie flatterte wie ein angeschossener Vogel; windgepeitscht, gleichsam die Erde küssend, strömte der Regen herab. Wie eine mächtige Lawine rollte der Donner über den ganzen Himmel, über den Bergen flammten Blitze auf, rot wie die Tulpen im Frühjahr, zwischen den steilen Ufern des Flusses heulte der Wind. Es goss in Strömen. Ich hatte mich tief ins Stroh eingegraben und fühlte, wie mein Herz unter meiner Hand pochte. Ich war glücklich.  (Seite 111)
Das Buch erscheint heute noch im Insel-Verlag in gebundener Ausgabe und ist auch im Unionsverlag gebunden, als Taschenbuch, Hörbuch und eBook erhältlich.


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