Oktober 2023

Eifersüchtig
Richard Ford


Novelle
Berlin Verlag, 96 Seiten
Ersterscheinung 1996



"Eifersüchtig", im Original "Jealous", ist eine kurze Novelle und meine erste Lektüre von Richard Ford. Die Geschichte hat nur 96 Seiten und ist nicht im Blocksatz gesetzt, das heisst, entgegen des üblichen Schriftbildes beginnen hier alle Sätze linksbündig, auch nach Absätzen, und enden am rechten Seitenrand unregelmässig, wie bei einem Brief. So liest sich das Buch relativ schnell durch. Es wäre vermutlich noch um ein paar Seiten kürzer, wenn das gewohnte Schriftbild verwendet und der Platz ausgenutzt worden wäre. Aber das 1996 im Berlin Verlag erschienene Büchlein sieht hübsch aus und auch das Buchcover spricht an. Der Titel ist in Klammern gesetzt. Vermutlich ein Gestaltungselement ohne weitere Bedeutung.



Wovon handelt die Geschichte? Der siebzehnjährige Ich-Erzähler Lawrence alias Larry lebt mit seinem Vater seit einigen Monaten allein in einem Farmhaus ausserhalb Duttons, einem kleinen Ort in der Prärie von Montana. Zu Thanksgiving möchte er seine Mutter in Seattle besuchen, nachdem diese Vater und Sohn verlassen hat. Seine Tante Doris will ihn auf der Reise begleiten, holt ihn mit dem Auto ab, und gemeinsam fahren die beiden nach Shelby, dem nächstgelegenen Ort mit Bahnhof. Auf der längeren Fahrt dorthin ist Doris sehr gesprächig, trinkt aus der Schnapsflasche, die sie hinter die Sonnenblende geklemmt hat, fragt Larry über seinen Vater und seine Beziehung zu ihm aus, lässt ihren eigenen Trennungsschmerz erkennen, und versucht den Jungen davon zu überzeugen, die ländliche Zurückgezogenheit hinter sich zu lassen und endlich sein eigenes Leben zu beginnen.

"Hat Don immer noch das Trinken aufgegeben?" "Ja, immer noch", sagte ich. "Und kommt ihr ganz prima miteinander aus, ihr beiden?" "Ja", sagte ich, "immer noch." (...) "Ich habe früher immer geglaubt, dein Vater hätte die falsche Schwester geheiratet, da wir uns ja alle zur selben Zeit kennengelernt haben. Ich hab geglaubt, er wäre zu gut für Jan. Aber jetzt glaube ich das nicht mehr. Jan und ich sind uns, seit sie in Seattle ist, viel nähergekommen. Wir unterhalten uns am Telephon über alles mögliche."  
(S. 36)
In Shelby kommt es zu einem Zwischenfall. Da bis zum Eintreffen des Zuges noch Zeit ist, beschliesst Larry, durch die Läden zu streifen, um seiner Mutter ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Seine Tante Doris findet er nach seinem Einkaufsbummel in einer Kneipe in der Nähe des Bahnhofs - diese sitzt dort bereits angetrunken an der Theke und unterhält sich mit einem Arbeiter indianischer Abstammung. Larry setzt sich hinzu, wird in die Konversation einbezogen, versteht jedoch kaum etwas von dem, was gesprochen wird. Plötzlich stürmen bewaffnete Sheriffs und Deputys in das Lokal, woraufhin der Indianer sich auf die Toilette verdrückt; es kommt zu einer Schiesserei, wobei der offenbar gesuchte Indianer von der Polizei erschossen wird.


So werden Larry und Doris, während sie sich schützend auf den Fussboden legen, unfreiwillig Zeuge dieser Aktion. Später, als sie wieder in die kalte und verschneite Nachtluft hinaustreten, möchte Larry sich bis zum Eintreffen des Zuges im Bahnhofgebäude aufwärmen, kann seiner Tante aber nicht abschlagen, sich mit ihr in den Wagen zu setzen. Dort dreht Doris die Heizung auf, trinkt wieder aus ihrer Schnapsflasche, beginnt erneut, auf Larry einzureden, und letztlich gelingt es diesem nicht, sich dem Bedürfnis seiner Tante nach Wärme zu entziehen. Wie nahe sich die beiden dabei kommen, bleibt Vermutung. Das Telefongespräch, das Larry später von der Bahnstation aus mit seinem Vater führt, in dem er ihm von der Schiesserei erzählt und auch Fragen über Doris stellt, und auch die Szene im Endteil des Buches, wo die beiden im Zugabteil sitzen, lässt Raum für Interpretationen offen. Dies ist nicht typisch für eine Novelle, zu deren Merkmalen eher die geschlossene Form gehört.

"An dir ist deine Haut das Schönste", sagte sie und sah mir dann ins Gesicht. "Du siehst im Gesicht wie deine Mutter aus, und du hast die Haut deines Vaters. Du wirst wahrscheinlich mit der Zeit aussehen wie er." Sie schob sich näher an mich heran. "Mir ist so kalt, Liebling", sagte sie und drückte ihre beiden zusammengefalteten Hände an meine Brust und ihr Gesicht an meine Wange. (...) "Du musst mich aufwärmen", flüsterte sie in mein Ohr. "Bist du heldenhaft genug, das zu tun? Oder bist du auf dem Gebiet ein Feigling?" (S. 83/84)
Andere tragende Formelemente einer Novelle weist "Eifersüchtig" hingegen auf. Kürze, Geradlinigkeit, eine im Mittelpunkt stehende Begebenheit, hier zwar nicht objektiv aus der Distanz geschildert, sondern aus dem Empfinden des Ich-Erzählers heraus. Die Geschichte ist nicht spektakulär, aber stimmig und ruhig erzählt und in einer gepflegten Sprache. Dennoch erhielt ich in der ersten Hälfte den Eindruck, das Erzählte könne mich nicht wirklich mitreissen. Eine Momentaufnahme, ein Tag im Leben eines Siebzehnjährigen, dessen Eltern sich getrennt haben, und eine Autofahrt mit seiner Tante, die in einem kühnen Abenteuer endet, ist Gegenstand der kurzen Novelle. Und trotz der Kürze hat die Geschichte Längen. Insbesondere das Gespräch zwischen Doris und dem Indianer im Lokal und der anschliessenden Schiesserei ist im Verhältnis zum Ganzen und für die Botschaft des Buches etwas zu ausführlich geraten.
Und doch lässt sich zwischen den Zeilen einiges an emotionaler Tiefe erkennen. Die Erzählperspektive bleibt ausschliesslich bei Larry. Nichts wird beschrieben, was ausserhalb seines Blickfeldes, seiner Gedanken oder Empfindungen geschieht. Alles nimmt er sehr genau wahr, man spürt seine Wachheit, und gleichzeitig bleibt er in sich gekehrt. Die Trennung von Vater und Mutter ist nicht verarbeitet. Alleinsein, Unerfahrenheit und Weltfremde machen ihn zu einem stillen Menschen, der nicht ausspricht, was ihn bewegt. So will seine Tante Doris, die im Ruf steht, wild zu sein, aber eigentlich doch nur frustriert und einsam ist, ihn aus der Reserve locken - dies auf ihre Art, was Larry nicht sonderlich schätzt, in Gesprächen mit ihr aber stumm hinnimmt. Vieles von ihrem Gerede versteht er gar nicht. Doris' Eifersucht auf seine Person - "Oh je. Du hast alles. Ja, so ist es, du hast einfach alles" - gibt dem Buch seinen Titel. Die Trennung von ihrem Mann und die verpasste Beziehung zu Larrys Vater kompensiert sie mit Alkohol und ihrem Ruf.


Selbst Larrys Vater, der nur auf den ersten Seiten in Erscheinung tritt, bleibt in Larrys Gedanken und Wesensart, in Konversationen mit Doris immer präsent, und seine Figur verliert deswegen nicht minder an Tiefe. Auch er leidet stumm, möchte seinem Sohn ein guter Vater sein, für ihn sorgen, für ihn da sein, die Vergangenheit hinter sich lassen und für die Zukunft das Richtige tun. Dabei muss er lernen, Larry die Möglichkeit offen zu lassen, bei seiner Mutter in Seattle bleiben zu wollen, was er letzten Endes auch zulassen möchte.


"Eifersüchtig", ein schmales Buch subtiler Zwischentöne, das mir am Ende doch gefällt. Eine Zweitlektüre würde gewiss noch weitere Nuancen hervorbringen. Am Ende des Tages bin ich froh, diese Novelle nicht unfertig weggelegt zu haben. Im Gegenteil, die letzten zwanzig Seiten sind richtig stark, und ich kann nachvollziehen, was Marcel Reich-Ranicki damit meinte, wenn er über den Autor sagte: "Mit Pointen und Details weiss Ford glänzend umzugehen. In seinen Dialogen und Stimmungsbildern herrscht eine gespannte Atmosphäre, sie sind von hoher Dramatik. Seine Sprache bleibt immer nüchtern, auf Genauigkeit hat er es abgesehen."

"Was wirst du deiner Mutter über das Leben hier draussen erzählen - den ganzen Herbst lang so von allem abgeschnitten?" sagte mein Vater. "Dass ein dunkler Schleier des Geheimnisses über der offenen Prärie liegt?" Er sah zu mir auf und lächelte. "Dass ich deine Erziehung vernachlässigt habe?" "Ich hab noch nicht viel drüber nachgedacht", sagte ich. "Na, dann denk mal drüber nach", sagte er. "Im Zug wirst du Zeit dazu haben, wenn deine Tante dich in Ruhe lässt."(S. 11)
Der 1944 geborene Richard Ford hat mehrere Romane und Erzählungen verfasst und ist mit den deutschen Übersetzungen im Programm des Hanser Berlin Verlags. Das Buch "Eifersüchtig" wird heute als Taschenbuch und eBook angeboten.

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