Gelesen im März 2023

Fast ein bisschen Frühling
Alex Capus


Residenz Verlag, 175 Seiten
Erstmalige Erscheinung 2002

Welches Buch bietet sich für diese Jahreszeit besser an als "Fast ein bisschen Frühling"? Zumindest vom Titel her. Nachdem ich vor einigen Jahren Alex Capus' Roman "Eine Frage der Zeit" gelesen habe und ich mich vor Längerem auch mit "Glaubst du, dass es Liebe war" befasst hatte, möchte ich nun mit "Fast ein bisschen Frühling" etwas bewusster auf eine Geschichte des Oltener Schriftstelles Alex Capus eingehen. Capus hat schon einige Romane verfasst, und mir ist der Autor für seine akribischen Recherchen wohlbekannt. Er scheut keinen Aufwand, sich für seinen Stoff intensiv mit historischen Nachforschungen auseinanderzusetzen, was ich schätze, und was für einen guten Schriftsteller essenziell ist. An "Fast ein bisschen Frühling" soll er zehn Jahre gearbeitet haben.


"Fast ein bisschen Frühling" handelt hauptsächlich in der Stadt Basel und Umgebung, und es ist immer etwas besonderes, wenn man ein Buch liest, dessen Schauplatz sich dort befindet, wo man selbst beheimatet ist. Im Kopf spielen sich einfach viel realistischere Bilder ab. Da liest man von Strassen, die man selbst schon entlang geschlendert ist, von Dörfern, Häusern und Einrichtungen, die man kennt, und da die Geschichte, die übrigens auf wahren Begebenheiten beruht, in den frühen dreissiger Jahren spielt, wo alles noch ganz anders ausgesehen hat als heute, erhalten die Bilder im Kopf zusätzlich eine nostalgische Note, was allerdings auch etwas Vorstellungskraft erfordert. Leider verlagert sich der Showdown der Handlung ins Laufental - ich hätte mir gewünscht, dass er im oberen Baselbiet gespielt hätte. Sissach spielt nur kurz eine Rolle, als die beiden Protagonisten dort in einem entwendeten Auto übernachten und am nächsten Morgen wieder in die Stadt zurückfahren. 


Die Tatsache, dass der Autor Alex Capus nicht nur bei überlebenden beteiligten Personen und in Zeitungsartikeln und Polizeiberichten nachgeforscht hat, was sich damals im Winter 1933/34 genau zugetragen hat, sondern dass auch seine Grosseltern mütterlicherseits Teil des Schauspiels und somit indirekt auch Miterzählende sind, erlaubt dem Leser, die Geschehnisse sehr wirklichkeitsnah und authentisch mitzuerleben. Zusätzlich entsteht so ein kleiner Seitenerzählstrang, der Einblick in die frigide Beziehung dieser beiden Personen gewährt. Das Dorf, in dem seine Grosseltern damals wohnten und sich zwangsverheiraten mussten, wird namentlich nicht genannt, soll aber im Hinterland der Stadt Basel liegen, in den Ausläufern des Jura; eine Gegend, die für ihren Kirschenschnaps bekannt ist und von wo aus man bis zum Elsass und dem Schwarzwald blicken kann.


Ungewohnt unstrukturiert erscheint mir im ersten Moment der Beginn der Geschichte, wo sich im ersten Kapitel unterschiedliche Elemente wie Steckbriefe über die beiden Bankräuber, die eigentliche Erzählung, Rückblicke beteiligter Personen und Schilderungen über die Grosseltern des Erzählers zu einem bunten Strauss mischen. Aber dann stellt sich heraus, dass diese Struktur durch das ganze Buch hindurch beibehalten wird, gar noch mit Polizeiberichten, Augenzeugenaussagen und Zeitungsberichten ergänzt wird, sodass man den Roman letztlich als eine Mischung aus Erzählung und Dokumentation ansehen kann. Capus geht die Geschichte von vielen Seiten an und lässt die Handlung damit sehr originell voranschreiten, eine Aneinanderreihung vieler Episoden und Perspektiven, die sich wie ein Bühnenstück zu einem gelungenen Arrangement entwickelt.
Alle erschrecken: Lindner über die Pistole vor Feuersteins Stirn; die zwei Räuber über den unerwartet auftauchenden Lindner; und Feuerstein über den Schreck in den Gesichtern der Räuber. So springt der Schreck von einem zum andern wie ein Eichhörnchen, das von Baumkrone zu Baumkrone eilt, und als der Schreck wieder bei Lindner anlangt, zuckt dieser zusammen, worauf reihum alle zusammenzucken, und dann löst sich eine Kugel Kaliber 7,65 Millimeter aus der Pistole. Sie durchbohrt Feuersteins Stirn, der Hinterkopf explodiert.
Capus erzählt humorvoll, ohne Umschweife, leicht verständlich, liebevoll und doch kompromisslos. Natürlich sind im Text zahlreiche Helvetismen versteckt, die Geschichte spielt in der Schweiz und ist auch von einem schweizerischen Unterton begleitet. So findet man immer wieder Ausdrücke, Redewendungen und Formulierungen, die es in der hochdeutschen Schriftsprache nicht gibt. Ich kann mir vorstellen, dass dies einem deutschen Leser etwas fremd erscheint. (Ein Leser auf lovelybooks: "...aber obwohl die Sprache gut zu verstehen ist, ist es keine Alltagssprache"). An gewissen Textstellen schiebt der Autor auch internationale vermischte Zeitungsmeldungen von damals ein, unter anderem die Schreckensnachrichten von Bonnie Parker und Clyde Barrow, dem amerikanischen Gangsterpaar, das zeitgleich im Westen ihr Unwesen getrieben hat. Selbstverständlich ist diese Parallele beabsichtigt und unterstreicht die Dramatik, die sich damals in Basel abgespielt hat. Jahrzehnte lang soll es danach, wie Capus im Buch erwähnt, in der Schweiz keinen Polizistenmord mehr gegeben haben.


Waldemar Velte und Kurt Sanders, so heissen die beiden Junggesellen aus Wuppertal, die vorhaben, dem Nazi-Regime den Rücken zu kehren und auf dem Seeweg nach Indien auszuwandern. Sie sind arbeitslos, obwohl ihre Väter Ingenieure sind und Baugeschäfte führen. Aber die Wirtschaftslage zu jener Zeit ist nicht die beste. Zum Arbeitsdienst wollen sie sich nicht melden. Das nötige Kleingeld für ihre Reise beschaffen sie sich durch einen Überfall einer Bank in Stuttgart, wobei sie aus Versehen den Filialleiter erschiessen. Danach kehren sie ein letztes Mal nach Wuppertal zurück, Waldemar Velte möchte sich wohl von seiner Schwester und Mutter verabschieden. Als Vorwand für die erneute Abreise werden Zeltferien am Felsensee mit ein paar Freunden angegeben, Waldemars Schwester Hilde ahnt aber, dass sie nach Indien oder Amerika auswandern möchten.


Die beiden kommen nur bis Basel. In der Zwischenzeit berichten Zeitungen von dem Vorfall in Stuttgart. Nach einem kurzen Abstecher nach Paris fahren sie mit dem Zug nach Basel und bleiben dort hängen, da sie mit zwei jungen Frauen Bekanntschaft machen. Es sind dies Viktoria Schupp, genannt Dorly, die im Globus als Schallplattenverkäuferin arbeitet, ihre Kollegin heisst Marie Stifter, eine Sportartikelverkäuferin im Globus, die viele Jahre später die Grossmutter des Erzählers Alex Capus sein wird. Waldemar und Kurt kaufen jeden Tag eine neue Schallplatte bei Dorly, die sie sich an den Nachmittagen in der Pension, in der sie nächtigen, auf einem Reisegrammophon anhören. Und abends nach Ladenschluss treffen sich die vier auf dem Marktplatz und nehmen lange Spaziergänge durch Basel vor, obwohl eine sibirische Kälte herrscht. Dorly und Waldemar freunden sich an; Marie ist nur auf zwei Spaziergängen mit von der Partie, danach schliesst sie sich zuhause in ihr Zimmer ein, eigentlich mehr, um sich vor Ernst Walder zu verkriechen, ihrem späteren Ehemann, dem werdenden Grossvater des Autors.
Seit Tagen wütet der sibirische Wind in Basel; Brunnen und Bäche frieren zu, über den Rhein schiessen waagerecht Milliarden von nadelspitzen Eiskristallen. In der Eisengasse sind Dorly, Marie, Kurt und Waldemar noch einigermassen geschützt, aber auf der Mittleren Brücke schlägt ihnen der Nordwind ins Gesicht, zerrt an Mützen und Mänteln, schlägt gegen Rock und Hosen und zerzaust die Frisuren, und die Eiskristalle dringen in Ohren, Nasen und Münder. "Kurt Sandweg war ein fröhlicher Geselle, ich nannte ihn Bajazzo. Am ersten Abend zum Beispiel ist er mitten auf der Brücke drei oder vier Schritte vorausgelaufen, hat sich zu uns umgedreht und seinen Mantel weit aufgerissen. (...)"
Schon bald geht den beiden Bankräubern das Geld aus, weshalb sie in Basel an der Elisabethenstrasse die Wever-Bank überfallen und dabei wiederum zwei Bankangestellte erschiessen. Kurt und Waldemar bleiben aber in der Stadt, und als wäre nichts geschehen, gehen sie weiter auf Spaziergänge mit Dorly und übernachten in der Pension in der Herbergsgasse, und um sie herum beginnt die Basler Polizei und das Kriminalkommissariat die Suche nach den zwei Verbrechern, die von Augenzeugen offenbar gesehen, im Aussehen aber nicht erkannt worden sind. Ausser, dass der eine gross und der andere klein ist, was die Suche nicht gerade erleichtert. In der Folge kommt es zu weiteren Schiesserein und Toten. Die beiden verlassen die Stadt und wollen über die spanische Grenze, kehren aber erfolgslos nach Marseille und schliesslich wieder in den Hexenkessel Basel zurück ...
Mit der Erzählform in Präsenz schafft Alex Capus Nähe zur Handlung. Er kann so den Leser in das aktuelle Geschehen von damals hineinziehen. Auch Polizeiberichte oder Zeitungsausschnitte werden in der Gegenwart zitiert. Man erhält so den Eindruck, als würde alles gerade erst jetzt passieren. Rückerinnerungen beteiligter Personen hingegen, die der Polizei oder dem Kriminalkommissariat zu Protokoll gegeben werden, oder die dem Autor bei seinen Recherchen  geschildert werden, sind als direkte Rede formuliert, in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt und in Präteritum formuliert. Mit dieser Berichtsform gewinnt der Leser wieder etwas Distanz zu den Vorfällen. So lässt Capus eine literarisch abgerundete Komposition entstehen.


Trotz der Kaltblütigkeit, die den Taten der beiden Bankräuber zugrunde liegt, geben sie doch ein sympathisches, freundliches Bild ab. Ihre Zuneigung zu den beiden Frauen kann der Leser spüren, ihr stets korrektes und zuvorkommendes Verhalten lässt sogar Warmherzigkeit entdecken. Genau diese Menschlichkeit steht im krassen Gegensatz zu ihrem Handeln. Der Autor will Kurt Sandwegs und Waldemar Veltes Motivation nicht deuten, lässt am Ende des Buches Zeitungsberichte sprechen, die sich nicht einig sind, lediglich die politische Gesinnung des Blattes spiegeln. Der Bericht eines jungen Mädchens in der Basler Arbeiter-Zeitung fällt mir dabei besonders auf. Sie schreibt, dass die beiden den Kampf gegen die Gesellschaft auf ganz falsche, unvernünftige Weise geführt haben, aber wie könne eine Welt ohne Vernunft von den Menschen Vernunft verlangen?
(...)" Und jetzt also wieder Marseille. Immerhin bin ich nun wieder etwas näher bei Dir, liebe Dorly. Kurt ist in diesem Augenblick unten am Hafen und schaut sich Schiffe an. Er mag Schiffe. Ich schreibe Dir hier auf der Sonnenterrasse eines Kaffeehauses, und es ist schon fast ein bisschen Frühling. Wir müssen jetzt überlegen, wie es weitergehen soll - noch einmal die Einreise nach Spanien versuchen, eine andere Route wählen? Die Lust auf die Reiserei ist mir in letzter Zeit so recht abhanden gekommen." (...)
Mir hat das Buch gefallen. Vielleicht gewichtet auch der Umstand, dass die Geschichte sich in meiner Heimat abspielt und mich deswegen mehr gepackt hat. Auch finde ich es speziell, dass die Grosseltern des Autors in diesem dramatischen Theaterstück, zumindest am Rande, mitwirken, es gibt dem Roman einen entfernten autobiografischen Charakter. Mir gefällt Alex Capus' Erzählweise, hin und wieder erinnert sie mich hier an den Schreibstil des Schweizer Autors Martin Suter, der gerne präzise, auf den Punkt gebracht, nüchtern und etwas "sec" formuliert. 


"Fast ein bisschen Frühling" erschien 2002 im österreichischen Residenz Verlag, wo Capus in seinen Anfängen Fuss fassen konnte, und wurde 2012 ins Programm des Carl Hanser Verlags aufgenommen. Dort ist es heute immer noch erhältlich im gebundenen Format, als Taschenbuch, Hörbuch und eBook.


Mehr Infos zum Buch auf www.lovelybooks.de