Gelesen im Oktober 2022

Professor Unrat
Heinrich Mann


Rowohlt Taschenbuch Verlag, 153 Seiten
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 256 Seiten
Erstmalige Erscheinung 1905

Ich habe mir für meine erste Rezension kein einfaches Buch ausgesucht. Das heisst, eigentlich habe nicht ich das Buch ausgewählt, sondern das Buch mich, denn mir ist nicht bewusst, dass ich mit Absicht zu diesem Roman gegriffen habe, um meine Lesereise hier auf bookstories zu beginnen. Gelesen habe ich die Taschenbuchausgabe von 1951 des Rowohlt Taschenbuch Verlags, in der irgendwo auf einer Seite noch eine Karrikatur und auf einer anderen Werbung für Pfandbriefe und Kommunalobligationen abgebildet sind. Das hat mich an die alten Jerry Cotton-Hefte des Bastei-Verlags erinnert, die ich als Teenager verschlungen habe, übrigens auch der Geruch und die Beschaffenheit der etwas vergilbten Seiten. Später habe ich dann auf booklooker.de ein hübsches, in Leine gebundenes Exemplar für meine Bibliothek gefunden, erschienen 1984 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.


Geschrieben hat Heinrich Mann, der ältere Bruder des Nobelpreisträgers Thomas Mann, den Roman schon in der Frühzeit seiner Dichterkunst, 1905, mit 34 Jahren. Vor diesem Hintergrund und aus diesem Zeitgeist heraus muss man die Ausdrucksweise und Sprache dieses Buchs verstehen und geniessen. Ein vornehmes, heute jedoch ungewohntes Deutsch prägen dieses Werk, was mir persönlich sehr gefällt. Zudem besticht dieses Werk durch Witz und satirische Ansätze. Spott und Hohn eigentlich, mit denen Heinrich Mann den damaligen Gesellschaftsstrukturen begegnet. Die einfachen Leute, das sogenannte Proletariat, von dem Unrat sich als Gelehrter und Professor in der Geschichte deutlich distanziert, unterhalten sich in ihrer eigenen Mundart. Hin und wieder werden sogar Sätze auf Plattdeutsch eingeschoben, denn die Handlung spielt in der Hafenstadt Lübeck, obwohl das im Buch nie ausdrücklich erwähnt wird.


"Tjä, das is woll nich anders, un denn in die Stube da achter, wo hier das Fenster von zu sehn is mit die rote Gardine vor." (...) "Da sitzen jä drei auf einen Hümpel... Oll Dösbattel." (...) "Denn sitten wi jä all in'n Dustern bi'n Eeten". 



Heinrich Mann's Werk gilt als monumentale Karrikatur der wilhelminischen Epoche, wurde sogar verfilmt, kam 1930 mit Marlene Dietrich unter dem Titel "Der blaue Engel" in die Kinos und erlangte Weltberühmtheit. Heinrich Mann erzählt mit subtilem Witz von der späten Leidenschaft eines spiesigen, in die Jahre gekommenen Gymnasialprofessors. Alle nennen ihn Unrat, aber eigentlich heisst er Raat. Deshalb leidet er, weil der Name Unrat ihn erniedrigen und beleidigen soll, doch letztlich leidet er auch dann, wenn jemand ihn nicht so nennt, denn dies versteht Unrat als Ignoranz ihm gegenüber, als eine Unverschämtheit, ihn nicht bei seinem Namen zu nennen, da er sich mit Unrat ja schon identifiziert. Die ganze Welt hat sich gegen ihn gestellt, so zumindest nimmt Unrat seine Aussenwelt war. In Wirklichkeit ist er es, der alle Menschen hasst, die ganze Gesellschaft ist seiner nicht ebenbürdig und würdig, denn alle Bürger der Stadt waren irgendwann seine Schüler, die nichts taugten, die er alle schon ins Kabuff gesteckt hat und von denen keiner je das Klassenziel erreicht hat. Seine drei grössten Widersacher sind die drei Schüler Lohmann, von Ertzum und Kieselack. Diese bringen ihn bis zur Weissglut, die in gelegentlichen Wutausbrüchen vor der Klasse Ausdruck finden. Zorn und Verachtung sind die Kräfte, die Unrat vorantreiben. 


Aber als Tyrann wusste er, wie man sich Sklaven erhält, wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren. Lohmann schien in Beziehung zu stehen zur Künstlerin Fröhlich; Unrat errötete darüber, weil er nicht anders konnte. Aber zum Verbrecher ward der Schüler Lohmann erst dadurch, dass er sich bei verboteten Freuden der harten Zucht des Lehrers entzog. Nicht sittliche Einfalt zwang Unrat zum Zorn...


Diese scheinbare Verbindung Lohmanns zur Künstlerin Fröhlich, die Lohmann in einem seiner Aufsätze erwähnt, lässt Unrat nicht mehr los. Er beschliesst, die Künstlerin zu finden. Des Abends irrt er durch dunkle Gassen, erntet überall Spott, eckt in einer Kneipe im Hafengebiet an, und glaubt, bei einem nächtlichen Besuch in des Schuhmachers Haus über den Aufenthalt der Künstlerin kundig zu werden. Diese Szene hat für mich schon fast kafkaeske Züge (obwohl Manns Werk ja vor Kafkas Zeit entstand), als Unrat sich lange nach Feierabend vom Schuhmacher bei Kerzenlicht ein paar Stiefel anmessen lässt und den Schuhmacher und seine Frau hierfür von der Einnahme ihrer Mettwurst abhält.


So verschiebt sich das Wirken Unrats, nachdem er die Künstlerin Fröhlich tatsächlich in einem Vergnügungslokal ausfindig machen kann, wo sie als Tänzerin und Sängerin auftritt, mehr und mehr vom lärmenden Klassenzimmer in den Blauen Engel. Zu Unrats Leid gehen dort auch die besagten drei Schüler ein und aus. Und da Unrat sich auf seine spiesige Weise mit der Künstlerin Fröhlich im Hinter- und Garderobenzimmer des Lokals anfreundet und dort während der nächtlichen Auftritte zur Kulisse und zum Sittenprediger zu werden scheint, verschiebt sich sein Zorn mehr und mehr auf die einfachen Besucher des Lokals, den Abschaum sozusagen, der der Künstlerin Fröhlich, die Unrat für sich zu beanspruchen beginnt, nicht würdig sind. Gesellschaftliche Klassenunterschiede treffen aufeinander. Auf der einen Seite die durch Unrat vertretene gesittete und gebildete Oberklasse, auf der anderen Seite das einfache, sich amüsierende Proletariat.


Es bildete sich in ihm Unmut: das Gefühl, verschlagen zu sein in eine Welt, die die Verneinung seiner selbst war, und ein Abscheu, der aus seinem Innersten kam, vor Menschen, die nichts Gedrucktes vor die Augen nahmen.



Unrats Machtkampf mit Lohmann, von Ertzum und Kieselack, die immer zu Zeiten im Vergnügungslokal sind, wenn Unrat es nicht ist, wird nun zusätzlich herausgefordert. Wo Unrat sich vorher in Sachen Wissen und Intelligenz klar im Vorteil sieht, so kommen nun Besitzansprüche an eine aufreizende Frau hinzu. Natürlich bespitzeln sich beide Seiten gegenseitig, und sehr amüsant ist die Szene, als ein alter, beinahe taubstummer Professor der Schule mit einem jungen Lehrer den blauen Engel aufsucht, um Umrats Verhalten am nächsten Tag im Lehrerzimmer zu tadeln und ihn an seine erzieherischen Pflichten zu erinnern. Die Nachstellung Unrats erfährt einen Höhepunkt, als die drei Schüler ihm und der Künstlerin Fröhlich ins Obergeschoss des Lokals folgen und dort durchs Schlüsselloch starren, was eine Konfrontation im Kabuff des Lokals zur Folge hat, die nicht so endet, wie die drei Schüler sich das vorgestellt haben. Unrats Machteinfluss aus dem Schulzimmer ist auch hier, im Hinterzimmer eines Vergnügungslokals, nicht zu brechen.
Eine Wende bringt meines Erachtens der Vorfall, als die drei Schüler angeklagt werden, ein Hünengrab im Wald verunstaltet zu haben und vor Gericht gestellt werden. Erneut prallen hier die beiden Parteien aufeinander, denn Unrat, der für die Anklage verantwortlich ist, sitzt ebenfalls im Gerichtssaal. Als auch die Künstlerin Fröhlich befragt wird, gerät Unrat in Bedrängnis und ist mit seinem unkontrollierten Auftreten vor Gericht verantwortlich für sein in der Folge sehr beschädigtes Ansehen, seine weiteren Begegnungen in der Stadt und letztlich für seine Entlassung aus der Schule.


Mit der Kirche rechnet Heinrich Mann ab, als Unrat in seinen dunkelsten Stunden Besuch vom Pastor erhält, der ihn wieder auf die richtige Bahn bringen will und in seinen Bekehrungen die Künstlerin Fröhlich beleidigt - ein Schlag Mensch, der es ja nicht wert sei, seine Existenz auf den Kopf zu stellen. Da kommt Unrat zur Besinnung. Er kann seinen Hass auf die Künstlerin, die ihn mit Kieselack verraten haben soll, ablegen und findet zu ihr zurück. Seine Rachgier siegt über die Eifersucht, denn Kieselack fliegt deshalb aus der Schule. Und der Pastor aus Unrats Haus. 
Als Unrat der Künstlerin Fröhlich dann eröffnet, ihr zugeneigt zu sein und ihr seine Lebensauffassung kundtut, musste ich den Abschnitt mehrere Male lesen und auch die Bedeutung gewisser Wörter nachschlagen, um zu begreifen, was Unrat eigentlich sagen will. Denn wir treffen hier auf eine wesentliche Kernaussage des Buches.


"Es ist mir - traun fürwahr - recht wohl bekannt, dass die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. Hieran kann höchstens der nicht humanistisch Gebildete zweifeln. Immerhin ist die Sittlichkeit vom Vorteil für den, der, sie nicht besitzend, über die, welche ihrer nicht entraten können, leicht die Herrschaft erlangt. Es liesse sich sogar behaupten und nachweisen, dass von den Untertanenseelen die sogenannte Sittlichkeit strenge zu fordern sei. Diese Forderung hat mich indes - aufgemerkt nun also! - niemals dazu verleitet, zu erkennen, dass es andere Lebenskreise geben mag mit Sittengeboten, die von denen des gemeinen Philisters sich wesentlich unterscheiden." (...) "Von dir dagegen habe ich, ich kann nicht umhin, dies festzustellen, zu keiner Zeit einen dem meinigen verwandten Lebenswandel erwartet."



So umständlich vornehm dies klingen mag, Unrat will damit wohl ausdrücken, dass durch den aufreizenden Einfluss der Künstlerin und Vergnügungsdame Fröhlich - übrigens ein gelungener Name für diese Person - letztlich dasselbe erreicht werden kann wie durch Unrats Zucht und Tyrannei gegenüber seinen Schülern - nämlich einer dummen, der Menschheit nicht würdigen Person die offenstehende Laufbahn verlustig zu machen und sie zu kompromittieren.
Eine unerwartete Begebenheit - "es is nich immer alles so, wie mancher woll meint" - und die weiteren Geschehnisse will ich an dieser Stelle nicht zusammenfassen, um dem geneigten Leser nichts vorweg zu nehmen, und nur noch erwähnen, dass Heinrich Mann im letzten Viertel des Buches meines Empfindens nach hauptsächlich aus einer allgemeineren Erzählperspektive schildert und nicht mehr allzusehr in die Tiefe einer Figur eindringt. Aber da die Personen mittlerweile gut bekannt sind, habe ich dies nicht als Mangel empfunden. Interessant zu beobachten ist hingegen doch der Wechsel der Ausdrucksweise, wenn Mann aus dem Bewusstsein der Künstlerin Fröhlich spricht. Und im Schlusskapitel kommt der Autor zu Lohmann zurück, dem grössten Widersacher Unrats, der eigentlich gar kein Widersacher ist, und mit der Schilderung aus Lohmanns innerstem Empfinden von Leere und Klarheit eilen wir dem Ende der Geschichte entgegen.


Mir hat das Buch sehr gefallen. Die Charaktere sind authentisch und vielschichtig gezeichnet, selbst Nebenfiguren wie zum Beispiel der Schuhmacher Rindfleisch, erhalten Tiefe. Die gehobene, altmodische, vornehme Sprache muss man mögen, sonst macht die Lektüre keinen Spass. Es ist herrlich mit anzusehen, wie Unrat in seinem selbst erschafften Leid ertrinkt. Wie anfänglich sein Zorn ihn vorantreibt, später sein Triebverhalten ihn verführt und "einen alternden Mann alle Grundsätze vergessen lässt", und wie letztlich seine einzige Lebensmotivation die Rachgier ist, denn alles setzt er daran, gemeinsam mit der Künstlerin Fröhlich Macht über die ganze Stadt zu erlangen. Herrlich deshalb, weil wir teilhaben können an Unrats Leid, ohne selbst mitleiden zu müssen, weil wir in der Rolle des distanzierten Beobachters Zeuge werden einer bemitleidenswerten Karrikatur, beinahe mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. Das Thema Verführung ist zeitlos und immer aktuell, aber in der Zeit, in der die Geschichte spielt, und in Manns Erzählkunst erhält es einen zusätzlichen Reiz. Eine bizarre, etwas ausserordentliche Liebesgeschichte vielleicht.


Traun für wahr - immer mal wieder...

Das Buch wird derzeit vom Anaconda Verlag, S. Fischer Verlag und Alfred Kröner Verlag in gebundener Ausgabe und von verschiedenen Verlagen als Taschenbuch angeboten. Auch als eBook und Hörbuch ist es erhältlich.
Mehr Infos zum Buch auf
www.lovelybooks.de
Wikipedia


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