April 2023

Gilead
Marilynne Robinson


Roman
Brendow Verlag, 299 Seiten

S. Fischer Verlag, 318 Seiten
Ersterscheinung 2004


Letzte Nacht sagte ich dir, dass ich eines Tages vielleicht fortgehe, und du sagtest, wohin, und ich sagte, zu unserem Herrn, und du sagtest, warum, und ich, weil ich alt bin, und du sagtest, ich sei doch gar nicht alt. Und du legtest mir die Hand auf meine Hand und sagtest, ich sei überhaupt nicht alt, als ob die Sache damit erledigt gewesen wäre. Ich sagte dir, du würdest vielleicht ein ganz anderes Leben führen als ich, ein anderes Leben auch als das, das du mit mir hattest; was wunderbar wäre, es gäbe viele Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen. Und du sagtest, Mama habe dir das auch schon gesagt. Und dann sagtest du, lach nicht!, weil du dachtest, ich hätte über dich gelacht. (S. 9)
Was für ein Beginn für einen Roman! Ich möchte mit diesem Zitat beginnen, denn diese Worte bewogen mich damals dazu, mir das Buch zuzulegen. Mir kamen Tränen, als ich diese Zeilen las, sie berührten mich tief und liessen mich keinen Augenblick an einem Kauf zweifeln. Es war damals aber auch eine Zeit, in der ich mich intensiv mit Sinn- und Lebensfragen beschäftigte, weshalb mir das Buch wohl zugeflogen kam. Eine gewisse Resonanz zum Inhalt dieser Geschichte muss ich mir zugestehen, auch jetzt bei der dritten Lektüre. Sie übt eine starke Faszination auf mich aus.


Ich hatte über die Autorin Marilynne Robinson nie zuvor etwas gehört oder gelesen. Für das Buch "Gilead" erhielt sie den Pulitzerpreis und für ihre anderen Werke zahlreiche andere Auszeichnungen. Ihre Bücher sind Bestandteil von Oprahs Bookclub, und Barack Obama soll "Gilead" in die Reihe seiner Lieblingsbücher eingereiht haben. Aber das alles war wie erwähnt nicht der Grund, weshalb ich es mir zulegte. Damals führten wir einen kleinen Buchzirkel und ich schlug es für eine gemeinsame Lektüre und anschliessende Buchbesprechung vor. Es kam bei den wenigsten gut an. Zu sehr störten sich die anderen an der Tatsache, dass theologischen Grundsätzen viel Raum gelassen wird; zu wenig konnten sie, so schien mir, sich davon inspirieren lassen, dass sehr viel Lebenserfahrung und Weisheit in diesem Roman steckt.


Zahlreiche Textstellen liessen sich finden, die zu zitieren lohnenswert wären. So viel Reife und Schönheit steckt in diesem Buch, so viel Herrlichkeit, dass selbst Leser, die Vorurteile gegenüber theologischen Inhalten hegen, eine Lesegenuss erwarten dürfen, dass es einfach keine Rolle mehr spielt, den fiktionalen autobiografischen Aufzeichnungen eines Predigers zu folgen. Im Gegenteil. Wenn nur die Hälfte der Menschheit in der Weise über ihr Leben reflektierte, wie Marilynne Robinson ihren Protagonisten John Ames über sich und die Welt sprechen lässt, wäre die Welt eine bessere Welt. Das klingt wie ein Klischee. Es ist aber so.

John Ames ist sechsundsiebzig Jahre alt und spürt, dass er bald sterben wird. Er möchte seinem sechsjährigen Sohn nicht fremd bleiben und ihm das, was ihm im Leben wichtig erscheint, in Form eines langen Briefes mit auf den Weg geben. Ames ist ein zweifelnder, selbstkritischer Mensch und ein Denker, was seine Berufung als Pfarrer mit sich bringt, aber stets auch Sinnkrisen in ihm ausgelöst hat. Schon sein Vater und Grossvater waren Prediger - aus dieser ihn prägenden Familientradition heraus entfaltet sich sein Leben und gewinnt er seine Erkenntnisse, die sich immer wieder auf die heilige Schrift beziehen, die er aber auch kritisch hinterfragt. Selbst mit Feuerbach, einem deutschen Philosophen und scharfen Glaubens- und Religionskritiker, setzt er sich auseinander. All seine Predigten hat er Wort für Wort aufgeschrieben und diese auf dem Dachboden in Schachteln aufgehoben - Predigten, die sein Leben widerspiegeln.


So nimmt Marilynne Robinson den Leser mit auf eine Lebensreise durch die Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse ihres Protagonisten. Wir erhalten Einblick in seine Ängste, beschäftigen uns mit seinen Zweifeln und dürfen ebenso an den kleinen Wundern teilhaben, die Ames in alltäglichen kleinen Dingen schätzen lernt. Wir erfahren einiges über Ames Vater, mit dem er, als er zwölf war, einen Fussmarsch durch die Prärie nach Kansas unternahm, um das Grab seines Grossvaters aufzusuchen; über den exzentrischen und einäugigen Grossvater selbst, der aktiv im Bürgerkrieg mitgewirkt hatte; über Ames ungläubigen Bruder Edward; über seine Einsamkeit nach dem Tod seiner ersten Frau; über den alten Boughton, Ames bester Freund, der Pfarrer bei den Presbyterianern ist und mit dem er sich ein Leben lang ausgetauscht hat; und schliesslich auch über Jack, den verlorenen Sohn des alten Boughton, der nach langer Zeit nach Gilead zurückkehrt und dem Erzähler Sorgen bereitet, da er ein Taugenichts ist und in der Vergangenheit grosse Schande über die Familie gebracht hat. Von Jack ist viel die Rede, da Ames viel daran liegt, seinen Sohn und seine Frau vor Jacks vermeintlich schlechtem Einfluss zu warnen.

Hier war ich Pastor, ich sorgte mich um Seelen, Aberhunderten im Lauf der vielen Jahre, und ich hoffe, ich habe zu ihnen gesprochen, nicht nur zu mir, wie es mir manchmal in der Rückschau scheint. Noch immer wache ich nachts auf und denke mir 'Das hättest du sagen sollen' oder 'Das hat er gemeint!', wenn ich mich an jahrelang zurückliegende Gespräche mit Menschen erinnere, die längst vom Antlitz der Erde verschwunden sind und bei denen jeder Gedanke, sich mit ihnen auszusprechen, zu spät kommt. Und dann frage ich mich, wo meine Aufmerksamkeit gewesen war. Wenn das überhaupt die richtige Frage ist. (S. 54/55)

John Ames wird als Mensch mit sehr wachem Bewusstsein dargestellt. Und da es sich um eine erfundene Person aus der Feder von Marilynne Robinson handelt, schreibe ich der Autorin dieses Eigenschaft zu. Jemand, der sich mit dem Grossen und Ganzen nicht verbunden fühlt, kann keinen solchen Roman verfassen. Ich habe nichts über die Autorin nachgeschlagen, mir ist dieses Buch Zeugnis genug, um Marilynne Robinson als Autorin bewundern zu können. Mit drei weiteren Romanen hat sie die Welt in und um Gilead weitergesponnen und mit der Lebensgeschichte dreier Personen ergänzt. Das Buch "Lila" handelt von John Ames zweiter Frau Lila, "Zuhause" erzählt  von Glory, der Tochter des alten Boughton, die nach Hause kommt, um ihren sterbenden Vater zu pflegen, und in "Jack" wird die Geschichte über das Leben des erwähnten verlorenen Sohnes Jack beschrieben. Es besteht kein Zweifel darüber, dass ich mir diese Werke noch besorgen werde.

Einige der Seifenblasen sind zwischen den Ästen nach oben getrieben, sogar bis über die Bäume hinaus. Ihr beide wart zu sehr auf die Katze konzentriert, um die himmlischen Folgen eures irdischen Treibens zu bemerken. Sie waren wunderschön. Deine Mutter hat ihr blaues Kleid getragen und du dein rotes Hemd, und ihr habt auf dem Boden gekniet. Soapy zwischen euch, und welcher Glanz an hochsteigenden Seifenblasen, und welches Lachen. Ah, dieses Leben, diese Welt. (S. 16)
"Gilead" spielt in der Zeit zwischen 1880 und 1957. Natürlich beleuchtet die Autorin auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe dieser Zeitepoche, in der Amerika von Dürren und der spanischen Grippe heimgesucht wurden und der Sessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten zahlreiche Opfer forderte. Auch spielen christliche Aspekte eine Rolle. Auf Wikipedia ist zu lesen, dass "Gilead" als Werk wahrgenommen wurde, dass dazu beiträgt, zeitgenössische Fehleinschätzungen über den Calvinismus und Puritanismus zu korrigieren, als 'Versuch der Konstruktion einer zeitgenössischen christlichen multikulturellen Identität, bereinigt von der Komplexität christlicher Sklaverei'. Ich kann das alles nicht beurteilen, da ich diesen Strömungen unkundig bin, weshalb meine Eindrücke auch nicht in diese Richtung zielen. Es wird seinen Grund haben, weshalb das Buch 2019 den zweiten Platz in der Liste der hundert besten Bücher des 21. Jahrhunderts erreichte und BBS News das Buch auf die Liste der hundert einflussreichsten Romane setzte.
Ich glaube mich vage zu erinnern, dass der Briefroman "Gilead" mich damals vor siebzehn Jahren dazu inspiriert hatte, das Manuskript zu meinem ersten Buch "Briefe an Madeleine" kurz vor dem Ende noch einmal umzuschreiben. Ich war überzeugt von der Romanform und Erzählperspektive und wollte meine Handlung in Form von Briefen voranschreiten und den Erzähler in der Ich-Form berichten lassen. Dies ist der Autorin hier in wunderschöner Weise gelungen. Von der ersten Seite an "hängt man an den Lippen" des Erzählers. Momente gab es, da ich beim Lesen aufblickte und dachte: das ist schon beachtlich, hier lässt eine fiktive Romanfigur sein Leben Revue passieren, aber eigentlich ist das alles aus der Feder von Marilynne Robinson. Das muss einem erst einmal gelingen.

Diesen Morgen habe ich versucht, über den Himmel nachzudenken, allerdings ohne grossen Erfolg. Ich weiss nicht, warum ich überhaupt erwarten sollte, irgendwelche Vorstellungen über den Himmel zu haben. Ich hätte mir auch nie diese Welt vorstellen können, wenn ich nicht fast acht Jahrzehnte auf ihr gewandelt wäre. (...) Jeden Morgen bin ich wie Adam, der in Eden aufwacht, bin erstaunt über die Geschicklichkeit meiner Hände und die Helligkeit, die durch die Augen in meinen Geist strömt (...) Was von mir wird bleiben? Nun, dieser alte Körper war ein ziemlich guter Begleiter. Wie Balaams Esel hat er den Engel gesehen, der mir noch verborgen ist, und legt sich einfach nieder.
(S. 85)
Das Buch wurde ursprünglich im Brendow Verlag herausgegeben. Zwölf Jahre später folgte eine Neuauflage im S. Fischer Verlag, wo es heute noch publiziert wird, allerdings nicht mehr als gebundenes Buch. Als der Fischer Verlag vermutlich plante, die Folgebücher von Marilynne Robinson um diesen fiktiven Ort Gilead ins Programm aufzunehmen (Lila, Zuhause, Jack), wurde auch Gilead neu von Uda Strätling ins Deutsche übersetzt. Ich war überrascht, als ich diese Version anlas, ich fand, dass Strätling den Originalton nicht auf die Weise getroffen hat, wie Karl-Heinz Ebnet das für die Ersterscheinung im Brendow Verlag gelungen ist. Gerade dieser wunderbar klassische, vielleicht etwas konservative, aber authentische Erzählstil war für mich Anlass gewesen, das Buch zu lesen. Wenn man allerdings diese erste Übersetzung nicht kennt, wird man auch mit der zweiten Übersetzung zufrieden sein.

Manchmal habe ich den Eindruck, als atmete der Herr in diese armselige graue Asche der Schöpfung, worauf sie wieder aufzulodern beginnt - für einen Augenblick oder ein Jahr oder eine ganze Lebensspanne. (...) Doch der Herr ist weitaus beständiger und sehr viel verschwenderischer, als es den Anschein hat. Wohin man seinen Blick auch richtet, die Welt vermag stets zu leuchten wie bei der Verklärung. Dazu muss man nur ein klein wenig an Bereitschaft aufbringen, es auch sehen zu wollen. (...) Es gibt zwei Gelegenheiten, an denen sich strahlend die heilige Schönheit der Schöpfung offenbart, und sie fallen zusammen. Die eine ist, wenn uns unsere sterbliche Unzulänglichkeit gegenüber der Welt spürbar wird, und die andere ist, wenn wir die sterbliche Unzulänglichkeit der Welt uns gegenüber spüren. (S. 296/297)
Das Buch erscheint im Fischer Taschenbuch-Verlag als Taschenbuch, eBook und als Hörbuch. Eine gebundene Ausgabe ist in der Übersetzung leider nicht mehr erhältlich.

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