John Ames ist sechsundsiebzig Jahre alt und spürt, dass er bald sterben wird. Er möchte seinem sechsjährigen Sohn nicht fremd bleiben und ihm das, was ihm im Leben wichtig erscheint, in Form eines langen Briefes mit auf den Weg geben. Ames ist ein zweifelnder, selbstkritischer Mensch und ein Denker, was seine Berufung als Pfarrer mit sich bringt, aber stets auch Sinnkrisen in ihm ausgelöst hat. Schon sein Vater und Grossvater waren Prediger - aus dieser ihn prägenden Familientradition heraus entfaltet sich sein Leben und gewinnt er seine Erkenntnisse, die sich immer wieder auf die heilige Schrift beziehen, die er aber auch kritisch hinterfragt. Selbst mit Feuerbach, einem deutschen Philosophen und scharfen Glaubens- und Religionskritiker, setzt er sich auseinander. All seine Predigten hat er Wort für Wort aufgeschrieben und diese auf dem Dachboden in Schachteln aufgehoben - Predigten, die sein Leben widerspiegeln.
So nimmt Marilynne Robinson den Leser mit auf eine Reise durch die Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse ihres Protagonisten. Wir erhalten Einblick in seine Ängste, beschäftigen uns mit seinen Zweifeln und dürfen ebenso an den kleinen Wundern teilhaben, die Ames in alltäglichen kleinen Dingen schätzen lernt. Wir erfahren einiges über Ames Vater, mit dem er, als er zwölf war, einen Fussmarsch durch die Prärie nach Kansas unternahm, um das Grab seines Grossvaters aufzusuchen; über den exzentrischen und einäugigen Grossvater selbst, der aktiv im Bürgerkrieg mitgewirkt hatte; über Ames ungläubigen Bruder Edward; über seine Einsamkeit nach dem Tod seiner ersten Frau; über den alten Boughton, Ames bester Freund, der Pfarrer bei den Presbyterianern ist und mit dem er sich ein Leben lang ausgetauscht hat; und schliesslich auch über Jack, den verlorenen Sohn des alten Boughton, der nach langer Zeit nach Gilead zurückkehrt und dem Erzähler Sorgen bereitet, da er ein Taugenichts ist und in der Vergangenheit grosse Schande über die Familie gebracht hat. Von Jack ist viel die Rede, da Ames viel daran liegt, seinen Sohn und seine Frau vor Jacks vermeintlich schlechtem Einfluss zu warnen.
Hier war ich Pastor, ich sorgte mich um Seelen, Aberhunderten im Lauf der vielen Jahre, und ich hoffe, ich habe zu ihnen gesprochen, nicht nur zu mir, wie es mir manchmal in der Rückschau scheint. Noch immer wache ich nachts auf und denke mir 'Das hättest du sagen sollen' oder 'Das hat er gemeint!', wenn ich mich an jahrelang zurückliegende Gespräche mit Menschen erinnere, die längst vom Antlitz der Erde verschwunden sind und bei denen jeder Gedanke, sich mit ihnen auszusprechen, zu spät kommt. Und dann frage ich mich, wo meine Aufmerksamkeit gewesen war. Wenn das überhaupt die richtige Frage ist.
Für mein Befinden ist John Ames, so wie er dargestellt wird, ein Mensch mit wachem oder erwachtem Bewusstsein. Und da es sich um eine erfundene Person aus der Feder von Marilynne Robinson handelt, schreibe ich der Autorin dieses Eigenschaft zu. Eine im spirituellen Sinn unbewusste Person kann keinen solchen Roman verfassen. Ich habe nichts über die Autorin nachgeschlagen, das werde ich auch nicht tun. Mir ist dieses Buch Zeugnis genug, um Marilynne Robinson als Mensch schätzen zu können und als Autorin zu bewundern. Mit drei weiteren Romanen hat sie die Welt in und um Gilead weitergesponnen und mit der Lebensgeschichte dreier Personen ergänzt. Das Buch "Lila" handelt von John Ames zweiter Frau Lila, "Zuhause" erzählt von Glory, der Tochter des alten Boughton, die nach Hause kommt, um ihren sterbenden Vater zu pflegen, und in "Jack" wird die Geschichte über das Leben des erwähnten verlorenen Sohnes Jack beschrieben. Es besteht kein Zweifel darüber, dass ich mir diese Werke noch besorgen werde.
"Gilead" ist keine leichte Lektüre. Es gibt keinen überflüssigen Satz, alles ist wohlbedacht, durchdacht, von einer literarischen und atmosphärischen Dichte. Man muss sich nicht aktiv mit Daseinsfragen des Lebens auseinandersetzen, aber man darf ihnen nicht mit Widerstand oder Desinteresse begegnen, sonst kommt bei der Lektüre schnell Langeweile auf und man legt das Buch zur Seite. Ich geniesse in dieser Hinsicht Heimvorteil, da mir diese Fragen schon immer am Herzen lagen, und dennoch gab es immer wieder Abschnitte, die ich mehrmals lesen oder über die ich nachdenken wollte, um zu begreifen, was damit gemeint ist. Man kann das Buch nicht einfach so durchlesen, man muss sich den Inhalt erarbeiten. Das hört sich nach Mühe an. In der Tat kann die Lektüre anstrengend sein, nämlich dann, wenn man schon zu müde ist, um einzutauchen in diese wundersame Welt von Marilynne Robinsons Roman.
Ich habe das Buch bereits dreimal gelesen. Ich könnte wieder von vorn beginnen, man findet immer wieder neue Denkanstösse und wunderschöne Formulierungen. "Gilead" ist ein schönes, tiefgründiges Buch, oder wie es auf der Rückseite des Umschlags der Ausgabe des Brendow Verlags heisst, ein Buch über Väter und Söhne, über das Kindsein und die Weisheit des Alters, über das Vergängliche und das, was bleibt (...), über das Wunder des Lebens selbst.
Manchmal habe ich den Eindruck, als atmete der Herr in diese armselige graue Asche der Schöpfung, worauf sie wieder aufzulodern beginnt - für einen Augenblick oder ein Jahr oder eine ganze Lebensspanne. (...) Doch der Herr ist weitaus beständiger und sehr viel verschwenderischer, als es den Anschein hat. Wohin man seinen Blick auch richtet, die Welt vermag stets zu leuchten wie bei der Verklärung. Dazu muss man nur ein klein wenig an Bereitschaft aufbringen, es auch sehen zu wollen. (...) Es gibt zwei Gelegenheiten, an denen sich strahlend die heilige Schönheit der Schöpfung offenbart, und sie fallen zusammen. Die eine ist, wenn uns unsere sterbliche Unzulänglichkeit gegenüber der Welt spürbar wird, und die andere ist, wenn wir die sterbliche Unzulänglichkeit der Welt uns gegenüber spüren.