Rezension vom April 2023
Roman
Originaltitel: Gilead
Erste Buchausgabe 2004
Gelesene Ausgabe: Brendow Verlag
Auflage 2006
299 Seiten
Eine traditionelle Predigerfamilie
John Ames ist sechsundsiebzig Jahre alt und spürt, dass er bald sterben wird. Er möchte seinem sechsjährigen Sohn nicht fremd bleiben und ihm das, was ihm im Leben wichtig erscheint, in Form eines langen Briefes mit auf den Weg geben. Ames ist ein zweifelnder, selbstkritischer Mensch und ein Denker, was seine Berufung als Pfarrer mit sich bringt, aber stets auch Sinnkrisen in ihm ausgelöst hat. Schon sein Vater und Grossvater waren Prediger - aus dieser ihn prägenden Familientradition heraus entfaltet sich sein Leben und gewinnt er seine Erkenntnisse, die sich immer wieder auf die heilige Schrift beziehen, die er aber auch kritisch hinterfragt. Selbst mit Feuerbach, einem deutschen Philosophen und scharfen Glaubens- und Religionskritiker, setzt er sich auseinander. All seine Predigten hat er Wort für Wort aufgeschrieben und diese auf dem Dachboden in Schachteln aufgehoben - Predigten, die sein Leben widerspiegeln.
Die Menschen aus Gilead
So nimmt Marilynne Robinson den Leser mit auf eine Lebensreise durch die Gedanken, Erinnerungen und Erlebnisse ihres Protagonisten. Wir erhalten Einblick in seine Ängste, beschäftigen uns mit seinen Zweifeln und dürfen ebenso an den kleinen Wundern teilhaben, die Ames in alltäglichen kleinen Dingen schätzen lernt. Wir erfahren einiges über Ames Vater, mit dem er, als er zwölf war, einen Fussmarsch durch die Prärie nach Kansas unternahm, um das Grab seines exzentrischen Grossvaters aufzusuchen, der aktiv im Bürgerkrieg mitgewirkt hatte. Wir lesen von Ames ungläubigem Bruder Edward und über dessen Einsamkeit nach dem Tod seiner ersten Frau. Wir lernen den alten Boughton kennen, Ames besten Freund, der Pfarrer bei den Presbyterianern ist und mit dem er sich ein Leben lang ausgetauscht hat. Und schliesslich erfahren wir auch einiges über Jack, den verlorenen Sohn des alten Boughton, der nach langer Zeit nach Gilead zurückkehrt und dem Erzähler Sorgen bereitet, da er ein Taugenichts ist und in der Vergangenheit grosse Schande über die Familie gebracht hat. Von Jack ist immer wieder die Rede, da Ames viel daran liegt, seinen Sohn und seine Frau vor Jacks vermeintlich schlechtem Einfluss zu warnen.