Wie komme ich zu einem Roman eines französischen Schriftstellers, wo mich Frankreich mit seiner zwar wohlklingenden, mir aber stets fremd gebliebenen Sprache und Mentalität nicht sonderlich anzieht? Vor vielen Jahren bin ich auf Patrick Modianos Roman "Die kleine Bijou" gestossen, ein schmales Buch, das mich von Erzählstil und Atmosphäre sehr angesprochen hat, und das ich mir damals aufgrund einer Buchbesprechung in der Sendung Literaturclub SRF kaufte. Seither ist mir Patrick Modiano ein Begriff. Bei einem meiner Streifzüge durch die Bücherbrocki fand ich vor einiger Zeit ein neuwertiges Exemplar von "Gräser der Nacht" und auch von "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Patrick Modiano hat zahlreiche Romane verfasst und erhielt 2014 den Nobelpreis für Literatur, was ich zum Zeitpunkt der Anschaffung dieser Bücher aber nicht wusste, sondern erst auf der Umschlagrückseite meiner Ausgabe des Carl Hanser Verlags lesen konnte.
Der Nobelpreis wurde Modiano für "die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der (deutschen) Besetzung sichtbar gemacht hat" zugesprochen. So ist es auf Wikipedia nachzulesen. Immer drehen sich Modianos Geschichten um die Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart, um das Vermögen oder Unvermögen, sich zu erinnern, und um das Vergessen. Nicht selten verschmelzen bei ihm diese beiden Zeitdimensionen. "Ich konnte nicht mehr richtig zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden", wie es an einer Stelle in "Gräser der Nacht" heisst. Und immer ist Paris Schauplatz, wird dem Leser diese Stadt in eindrücklicher, melancholischer, oft trister Atmosphäre näher gebracht, natürlich aus einer Zeit, die irgendwo in der Erinnerung des Erzählers verborgen liegt.
Man muss bewusst aufnahmefähig bleiben, um Modianos mentalen Suchpfaden folgen zu können. Man muss sich einlassen wollen auf ein Puzzlespiel von Erinnerungsgräsern, die sich zu einem Strauss formen und am Ende doch kein Ganzes ergeben. Man muss für Paris bereit sein. Vergangenen Oktober waren meine Frau und ich mit Freunden in Paris; den Stadtplan habe ich aufbewahrt. Er war mir bei der Lektüre eine grosse Hilfe. Mit dem offenen Plan neben dem Lesesessel und der Lupe auf dem Tischchen habe ich mich an die Lektüre von "Gräser der Nacht" gemacht, denn Modiano geizt nicht mit Beschreibungen und Bezeichnungen von Strassen und Begegnungsorten, Avenues und Rues, Boulevards und Pariser Stadtvierteln. Ein Paris unkundiger Leser wird an diesem Roman vielleicht keinen Gefallen finden.
Zudem musste ich die ersten Seiten dreimal von vorne beginnen, da ich abends vor dem zu Bett gehen nicht mehr konzentriert genug war, wie sich beim Weiterlesen herausstellte. Man sollte nichts auslassen oder überlesen, obwohl es Leserstimmen gibt, die besagen, dass man in dieser Geschichte irgendwo zu lesen beginnen könnte, weil sie keiner Chronologie folgt. Meiner Meinung nach verliert man dann nur den Faden. Man taucht ein in das anonyme Leben in einer Stadt, in einen dunklen Pulk von Erinnerungen, die Modiano in wehmütiger, aber auch dunkler Atmosphäre präsentiert. Wäre "Gräser der Nacht" ein Film, könnte man ihn zweifelsohne als "film noir" bezeichnen.