In den Wind geflüstert
Gudmundur Andri Thorsson

Roman
Originaltitel: Valeyrarvalsinn
Erste Buchausgabe: 2011
Gelesene Ausgabe: Hofmann und Campe, 175 Seiten
1. Auflage 2014 
Rezension vom Mai 2024



"In den Wind geflüstert" - was für ein schöner Buchtitel! Endlich einmal eine gelungene freie Übersetzung eines Titels, der im isländischen Original da lautet: "Valeyrarvalsinn", was so viel heisst wie Valeyri-Walzer. Valeyri ist ein kleines Fischerdorf auf einer Landzunge an der Südküste Islands. In Valeyri treffen sich die Menschen oft auf Tanzabenden und Musikveranstaltungen, um ihren grauen Alltag vergessen zu machen - deshalb, und weil es in dem Buch auch um den Dorfgeist Valeyris geht, wohl dieser Titel. Allein schon diese Worte "In den Wind geflüstert" vermitteln ein Bild von Stille, Ruhe, leisen Tönen, poesievoller Stimmung, und ebensogut könnte es sich um den Titel eines Gedichtbandes handeln. Aber es ist kein Gedichtband, es ist ein Roman, eine kleine Sammlung von Erzählungen oder Momentaufnahmen, die sich zu einem Ganzen fügen.



Ich hatte dieses Buch rein intuitiv aus dem Regal der Gebrauchtbuchhandlung meines Vertrauens gezogen. Der Titel weckte Neugier in mir, und als ich im Klappentext las, dass das Werk aus der Feder eines isländischen Autors stammt, wurde ich noch neugieriger. Der in zarten, von hellblauen bis ins Türkis übergehenden Pastelltönen gehaltene Buchumschlag, auf dem ein einsames Segelboot auf offener, Nebel verhangener See abgebildet ist, hat mich sehr angesprochen. Das Bild drückt eine krafvolle Stille aus. Genau wie der Inhalt des Buches. Eine Lektüre, die alle Sinne anspricht. Auf die wir uns mit allen Sinnen einlassen dürfen.


Der Artikel auf Wikipedia über Gudmundur Andri Thorssons Leben und Werk ist nicht viel länger als der Klappentext im Buch "Valeyrarvalsinn". In dem Artikel wird das Buch auch als Kurzgeschichtensammlung aufgeführt und nicht als Roman, obwohl es ein solcher ist. In der Tat sind es sechzehn Geschichten, sechzehn Kapitel mit Überschriften. Einzelne Lebensgeschichten, die unabhängig voneinander doch irgendwie zusammenhängen, gegenseitige Anküpfungspunkte haben, in ihren Wurzeln miteinander verbunden sind. Unterschiedliche Schicksale, die das Leben schreibt, keine Aussergewöhnlichkeiten. Manchmal scheinen uns diese Charaktere nicht fremd zu sein. Lebensgeschichten sind austauschbar. Was bleibt, ist das Leben selbst.

Ich habe gesehen, wie die Liebe in Augen erwachte und in Taten starb. Ich habe gesehen, wie ein verlassenes Kind zu weinen aufhörte. Ich habe gesehen, wie Männer ertranken und Jungen sich erhängten. Und habe gesehen, wie eine schwangere Frau mit eisblauen Augen ermordert und begraben wurde. Ich bin schon lange tot. Ich müsste längst erloschen sein, und vielleicht bin ich das auch, ohne es erkannt zu haben. Ich bin nur ein Bewusstsein. Ich komme vom Meer und streiche über die Landzunge, und bald werde ich mit dem Nebel fortgezogen sein. (S. 8)
Es ist Mittsommer. Am Abend soll in dem Fischerdorf Valeyri im Gemeindehaus ein Chorkonzert stattfinden, bei dem viele Bewohner aktiv daran teilnehmen. Chorleiterin Kata radelt auf ihrem Fahrrad Richtung Gemeindehaus, sie will sich noch etwas vorbereiten, bevor die anderen kommen. Auf ihrem Weg dorthin fallen einige Personen in ihr Blickfeld, oder sie wird von anderen Personen gesehen, die sich an diesem sommerlichen Nachmittag in ihren Häusern aufhalten oder draussen im Garten sitzen. Abends werden sich alle beim Konzert treffen, doch vorher lernen wir diese Personen und ihre Geschichten kennen.


Es sind Momentaufnahmen, wenige Minuten, in denen stille Begegnungen stattfinden, die Thorsson zum Anlass nimmt, um einige Bewohner des Dorfes Valeyri zu skizzieren, die Familie Valeyris. In Valeyri haben auch die Häuser Namen, sie besitzen eine Seele, sie erzählen von der Vergangenheit, von den Menschen, die dort wohnten und wohnen, sie erzählen von der Schwermut und der Melancholie und dem grauen Alltag. Niemand dort scheint wirklich seinen Frieden gefunden zu haben, Hoffnung und Sehnsüchte treiben die Menschen an, der Puls des Lebens wird oft im Alkohol ertränkt, und selbst bei jenen, von denen jeder glaubt, sie seien vom Glück beseelt, bröckelt die Fassade.


Da ist die Chorleiterin Kata selbst, deren blaugepunktetes Kleid wie ein roter Faden durch das Buch führt. Kata, die geliebt worden wäre, hätte die Begegnung im Park mit Andreas, dem Kontrabass-Spieler, stattgefunden. Da ist Smyrill, der Dichter, der spürt, wie gross die Poesie und wie offen die Welt und wie unermesslich weit und hoch sein eigener Geist ist. Da ist der einsame Arni, der im Haus seiner Grosseltern lebt, der früher im Berufsleben erfolgreich eine Werbeagentur führte und alle Menschen lesen konnte, nur seine Frau Agusta nicht, die ihn längst verlassen hat. Da sind Kapitän Gudjon und seine Frau Sveinsina, die sich Sorgen um Bangsi machen, weil dessen Vater damals, als der Junge erst vier war, aus dem Fenster sprang. Sveinsina fühlt sich Bangsi gegenüber verpflichtet, denn Bangsi scheint ihr Sohn zu sein.


Da ist die sechzigjährige Josa, die in Erinnerungen schwelgt, die Kalli damals in einer Kirche geliebt hat und nicht im Chor mitmacht, weil Kalli dort mitsingt, und die ihrem Sohn Gummi nichts von dem erzählt, was ihr im Leben nicht passiert war, während er ihr alles erzählt, was ihm im Leben passiert war. Ihr Sohn Gummi hat seine Familie verlassen, wie einst sie von Kalli verlassen worden war und zurückblieb mit nichts als der Abwesenheit im Arm. Da ist Svenni, der heute krank ist, aber alle wissen, dass er sich im Alkohol ertränkt. Er glaubt, er hüte ein Geheimnis, wenn er nicht darüber spricht, dass er mit elf, als er von den Eltern aufs Land geschickt wurde, von einem Abgeordneten missbraucht worden war.

Da ist Kalli, der sich in seine Werkstatt zurückgezogen hat, dort alte Gegenstände hütet, die er einst für irgendwen repariert hat oder die ihn an jemanden erinnern. Auch er lebt allein, obwohl er mit Sidda verheiratet ist, nachdem er Josa vor vielen Jahren verlassen hat. Da sind unerzählte Geschichten, wie jene, die sich im Haus Namens Brimnes irgendwann ereignet haben sollen, der mysteriöse Tod eines Kindes und das Verschwinden einer Frau namens Emilia, die eisblaue Augen hatte und mit Sigmundur vereiratet war, der nach Australien ausgewandert ist. Da sind Frida und Andrés, der im Museum arbeitet und immer viele Geschichten zu erzählen hat. Da ist Pastor Saemundur, der dem Alkohol und dem Glücksspiel im Internet verfallen ist und während des Spiels erkennt, dass das Gute und das Böse in ihm und um ihn ringen. 


Da sind Olafur und Sigga und Joi und Anna, unzertrennliche Lebensgefährten, zwischen ihnen scheint Eintgrächtigkeit zu herrschen. Sie strahlen vor Glück und treffen sich am Wochenende und trinken Weisswein, und Joi weiss nicht, dass seine Frau Anna über all seine Sünden Bescheid weiss, die er nur Olafur gebeichtet hat. Da ist Gunnar, dessen Bruder sich in der Jugendzeit erhängt hat, Gunnar, der an diesem Nachmittag von seiner Ex-Partnerin, die ihn vor dreissig Jahren verlassen hat, besucht wird, weil sie für eine Beerdigung in den Ort zurückgekehrt ist, und die sich nun wieder etwas näher kommen. Da ist Papageitaucher-Lalli, über achtzig, vergesslich geworden, orientierungslos durch die Strassen Valeyris irrend, nicht mehr wissend, wen er aufsuchen wollte. In Kürze wird er seiner Schwester Lara in die Arme laufen. Lalli erinnert sich an Emilia, die seine Jugendliebe war. Und da ist Gudmundur, Dichter der Dichter. Er liegt auf dem Sterbebett, an Tuberkulose erkrankt, sieht beim Übertritt in die weisse Dimension seinen Engel, und Katrin, seine Jugendliebe, die ihn für Lalli Lar verlassen hat. Und sein Bewusstsein begibt sich auf die Reise durch den Ort Valeyri.


So sind wir, die Leute aus Valeyri, wir. Manche Kapitel dieser Erzählung kennt jeder: (...) die Liebesgeschichte von Gudmundur, dem Dichter der Dichter, und Katrin und wie sie seinen Jugendfreund Lalli Lar heiratete, bevor Gudmundur an Tuberkulose starb - wie sie den Dichter für den Dorfkönig verliess -, Geschichten von verschlagenen Geistern und launischen Gespenstern (...), und von den Elfen in den Felsen bei der Hafeneinfahrt - die Felsen wurden gesprengt, als man den Hafen in den Heringsjahren vergrösserte, was einen so mächtigen Fluch nach sich zog, dass der Hering für immer fortblieb.  (S. 82)

Mit diesem letzten Kapitel über Gudmundur schliesst sich der Kreis der Erzählungen. Und uns wird klar, dass das Bewusstsein des sterbenden Gudmundur es ist, das uns durch all diese Geschichten trägt. Mit dem Nebel zieht es über die Landzunge Valeyris und begegnet dort den Menschen und ihren Geheimnissen, seiner Familie, den Kindern und Kindeskindern, und alles hängt miteinander zusammen. Alles ist verbunden, wunderschön sind die Verknüpfungen der einzelnen Episoden, und wenn es nur durch eine Fliege ist, die hier eine Terrasse verlässt und dort durch das Zimmerfenster eines anderen Hauses hineinfliegt. Auch werden Naturbeschreibung und Klänge dazu verwendet, um Verbindungen und eine Einheit zu schaffen, eine Pusteblume mit ihren Samen, das Geräusch eines Motorboots, das in den Hafen einfährt, Kinder, die auf einem Trampolin springen, der Klang des Windes, die Vögel, das Sonnenlicht, das in den Weissweingläsern flirrt. Wundervolle Stimmungsbilder.

Er betrachtete die weiche Biegung ihres Halses, ihre rastlosen Finger, während sie las, ihre blonden Haare, die am Hals hinabfielen und die sie ständig zu allen möglichen Knoten und Zöpfen drehte und dann wieder offen über ihre breiten Schultern fallen liess - sie war von einer Unruhe umgeben, und manchmal spürte er sie und dachte: wir sollten etwas zusammen unternehmen. Doch er sagte nichts. (S. 32)

Es sind stille Töne, die Gudmundur Andrj Thorsson anklingen lässt, aber auch unverblümte, mit Schwermut und Sehnsucht durchtränkte Worte. Es sind tiefsinnige, leise erzählte Geschichten. Das, was unmittelbar geschieht, ist in Präsenz formuliert, das erste und letzte Kapitel, wo vom erzählenden Bewusstsein die Rede ist, in Ich-Form. Dialoge sind kaum vorhanden, was nicht stört. Ein schönes Stilmittel ist die Wiederholung bestimmter Sätze, was den Worten besonderes Gewicht verleiht und einer Botschaft Ausdruck gibt.


Ich musste das Buch nach den ersten 35 Seiten aus zeitlichen Gründen wieder weglegen und konnte es erst eine Weile später wieder zur Hand nehmen. Darunter leidet der Lesefluss immer, doch "In den Wind geflüstert" ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kannDie Bewertung von Lesern auf Lovelybooks fällt durchschnittlich bis negativ aus. Das Buch sei stilistisch stark, aber inhaltlich schwach. Versprechungen am Anfang würden nicht eingehalten, schlecht umgesetzt, die Geschichten verlören sich in Belanglosigkeiten, Handlungsstränge würden nicht zusammengefügt, ein Ende gar fehlen. Nein! Wer die Lektüre aufmerksam liest, erkennt die Zusammenhänge, die Botschaft, die Thorsson mit seinem poetischen Werk transportieren möchte. 


Thorsson hat das Werk seinem verstorbenen Vater gewidmet – es wurde in dem Jahr veröffentlicht, in dem dieser verstarb. "In den Wind geflüstert" ist Aufarbeitung der Vergangenheit, Sterbebegleitung, Verarbeitung von Gedanken über den Tod und über das Leben. Es bringt uns das Leben aus Island näher, das Dorf namens Valeyri, das auf der Landkarte «Hvaleyri» geschrieben wird, und ich denke, dass Thorssons Vater all diese Personen gekannt haben mag und Teil dieser Geschichte in Valeyri gewesen sein könnte. Zumindest ist mir dieser Gedanke sympathisch. Ich kann das Buch allen Lesern empfehlen, die Stil, hervorragende Konstruktion, Poesie, Tiefe und Botschaften zwischen den Zeilen schätzen, und die bereit sind, aufmerksam und achtsam durch die Seiten zu wandern.

Er betrachtete die in Sonnetbögen gleitende Möwe, die Wellen, schwer von jahrtausendealten Mustern der Meeresströmungen, eine Wolke, die am tiefblauen Himmel einer weissen Sehnsucht glich. Er betrachtete den Wind, betrachtete das Gras im Wind, sah den Wind im Gras. Für einen Moment liess er den Stift sinken, während er darauf wartete, dass das Gedicht in seiner richtigen Gestalt mit den richtigen Worten in der richtigen Ordnung zu ihm käme. (S. 18)
Gudmundur Andri Thorsson ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Islands. Die wenigsten kennen ihn wohl. Er wurde 1957 in Reykjavik geboren, arbeitet unter anderem als Journalist, Literaturkritiker, Verlagslektor und Übersetzer. Von seinen vier Romanen, für die er zahlreiche Preise erhielt, wurden zwei in die deutsche Sprache übersetzt. Auch politische Ambitionen prägten eine Zeit seines Wirkens, er war vier Jahre lang Abgeordneter des isländischen Parlaments, wo er den südwestlichen Wahlkreis Islands vertrat.


Das Buch wird zurzeit nicht aufgelegt und ist leider nur gebraucht erhältlich.

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