Rezension vom Mai 2024
Roman
Originaltitel: Valeyrarvalsinn
Erste Buchausgabe: 2011
Gelesene Ausgabe: Hofmann und Campe
1. Auflage 2014
175 Seiten
Erzählte und unerzählte Geschichten
Da ist Kalli, der sich in seine Werkstatt zurückgezogen hat, dort alte Gegenstände hütet, die er einst für irgendwen repariert hat oder die ihn an jemanden erinnern. Auch er lebt allein, obwohl er mit Sidda verheiratet ist, nachdem er Josa vor vielen Jahren verlassen hat. Da sind unerzählte Geschichten, wie jene, die sich im Haus Namens Brimnes irgendwann ereignet haben sollen, der mysteriöse Tod eines Kindes und das Verschwinden einer Frau namens Emilia, die eisblaue Augen hatte und mit Sigmundur vereiratet war, der nach Australien ausgewandert ist. Da sind Frida und Andrés, der im Museum arbeitet und immer viele Geschichten zu erzählen hat. Da ist Pastor Saemundur, der dem Alkohol und dem Glücksspiel im Internet verfallen ist und während des Spiels erkennt, dass das Gute und das Böse in ihm und um ihn ringen.
Vom Leben und vom Sterben
Da sind Olafur und Sigga und Joi und Anna, unzertrennliche Lebensgefährten, zwischen ihnen scheint Einträchtigkeit zu herrschen. Sie strahlen vor Glück und treffen sich am Wochenende und trinken Weisswein, und Joi weiss nicht, dass seine Frau Anna über all seine Sünden Bescheid weiss, die er nur Olafur gebeichtet hat. Da ist Gunnar, dessen Bruder sich in der Jugendzeit erhängt hat, Gunnar, der an diesem Nachmittag von seiner Ex-Partnerin, die ihn vor dreissig Jahren verlassen hat, besucht wird, weil sie für eine Beerdigung in den Ort zurückgekehrt ist, und die sich nun wieder etwas näher kommen. Da ist Papageitaucher-Lalli, über achtzig, vergesslich geworden, orientierungslos durch die Strassen Valeyris irrend, nicht mehr wissend, wen er aufsuchen wollte. In Kürze wird er seiner Schwester Lara in die Arme laufen. Lalli erinnert sich an Emilia, die seine Jugendliebe war. Und da ist Gudmundur, Dichter der Dichter. Er liegt auf dem Sterbebett, an Tuberkulose erkrankt, sieht beim Übertritt in die weisse Dimension seinen Engel, und Katrin, seine Jugendliebe, die ihn für Lalli Lar verlassen hat. Und sein Bewusstsein begibt sich auf die Reise durch den Ort Valeyri.
Das erzählende Bewusstsein
Mit diesem letzten Kapitel über Gudmundur schliesst sich der Kreis der Erzählungen. Und uns wird klar, dass das Bewusstsein des sterbenden Gudmundur es ist, das uns durch all diese Geschichten trägt. Mit dem Nebel zieht es über die Landzunge Valeyris und begegnet dort den Menschen und ihren Geheimnissen, seiner Familie, den Kindern und Kindeskindern, und alles hängt miteinander zusammen. Alles ist verbunden, wunderschön sind die Verknüpfungen der einzelnen Episoden, und wenn es nur durch eine Fliege ist, die hier eine Terrasse verlässt und dort durch das Zimmerfenster eines anderen Hauses hineinfliegt. Auch werden Naturbeschreibung und Klänge dazu verwendet, um Verbindungen und eine Einheit zu schaffen, eine Pusteblume mit ihren Samen, das Geräusch eines Motorboots, das in den Hafen einfährt, Kinder, die auf einem Trampolin springen, der Klang des Windes, die Vögel, das Sonnenlicht, das in den Weissweingläsern flirrt. Wundervolle Stimmungsbilder.
Schöne Stilmittel
Es sind stille Töne, die Gudmundur Andrj Thorsson anklingen lässt, aber auch unverblümte, mit Schwermut und Sehnsucht durchtränkte Worte. Es sind tiefsinnige, leise erzählte Geschichten. Das, was unmittelbar geschieht, ist in Präsenz formuliert, das erste und letzte Kapitel, wo vom erzählenden Bewusstsein die Rede ist, in Ich-Form. Dialoge sind kaum vorhanden, was nicht stört. Ein schönes Stilmittel ist die Wiederholung bestimmter Sätze, was den Worten besonderes Gewicht verleiht und einer Botschaft Ausdruck gibt.
Man muss aufmerksam lesen
Ich musste das Buch nach den ersten 35 Seiten aus zeitlichen Gründen wieder weglegen und konnte es erst eine Weile später wieder zur Hand nehmen. Darunter leidet der Lesefluss immer, doch "In den Wind geflüstert" ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann. Die Bewertung von Lesern auf Lovelybooks fällt durchschnittlich bis negativ aus. Das Buch sei stilistisch stark, aber inhaltlich schwach. Versprechungen am Anfang würden nicht eingehalten, schlecht umgesetzt, die Geschichten verlören sich in Belanglosigkeiten, Handlungsstränge würden nicht zusammengefügt, ein Ende gar fehlen. Nein! Wer die Lektüre aufmerksam liest, erkennt die Zusammenhänge, die Botschaft, die Thorsson mit seinem poetischen Werk transportieren möchte.
Hervorragende Komposition
Thorsson hat das Werk seinem verstorbenen Vater gewidmet – es wurde in dem Jahr veröffentlicht, in dem dieser verstarb. "In den Wind geflüstert" ist Aufarbeitung der Vergangenheit, Sterbebegleitung, Verarbeitung von Gedanken über den Tod und über das Leben. Es bringt uns das Leben aus Island näher, das Dorf namens Valeyri, das auf der Landkarte «Hvaleyri» geschrieben wird, und ich denke, dass Thorssons Vater all diese Personen gekannt haben mag und Teil dieser Geschichte in Valeyri gewesen sein könnte. Zumindest ist mir diese Vorstellung sympathisch. Ich kann das Buch allen Lesern empfehlen, die Stil, hervorragende Konstruktion und Komposition, Poesie, Tiefe und Botschaften zwischen den Zeilen schätzen, und die bereit sind, aufmerksam und achtsam durch die Seiten zu wandern.