Rezension vom August 2024

Momo
Michael Ende

Märchen-Roman 
Erste Buchausgabe 1973
Gelesene Ausgabe: Thienemann Verlag
Auflage 1995
271 Seiten



Der Name Momo
Nicht mit dem Buch, aber mit dem Namen Momo verbindet mich etwas ganz Besonderes. Mein Enkelkind nennt mich Momo. Nicht Opa oder Grossvater oder Nonno oder sonstwie, sondern Momo. Das hat sie sich, als sie zu sprechen begann, so ausgedacht und mir diesen Namen zugeteilt. Und das macht mich stolz. Weil mir der Name Momo gefällt, und weil er mich an das Buch von Michael Ende erinnert, und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass ich die Eigenschaft dieser kleinen Momo, gut zuhören zu können und sich für Dinge Zeit zu nehmen, teile. Aber kommen wir zu diesem zeitlosen Märchen-Roman von Michael Ende, der 1973 erschien, mit dem deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und weltweit über sieben Millionen mal verkauft wurde, und der nach "Die unendliche Geschichte" Michael Endes erfolgreichstes Werk ist.


Ärgerliche Druckfehler
Als ich den Klappentext meiner Ausgabe des Thienemann Verlags las, um mich etwas auf die Geschichte einzustimmen, bemerkte ich sage und schreibe fünf Druckfehler in dem kleinen überschaubaren Text, was mich zweifeln liess, ob ich tatsächlich in das Buch eintauchen sollte. Ich kann mangelhaft lektorierte Texte nicht leiden. Mir sticht jeder Druckfehler sofort ins Auge. Es gab bisher kein einziges Buch, in dem ich nicht irgendwo einen kleinen Fehler entdeckt habe. Das ist nichts Aussergewöhnliches - jedem Lektorat, und wenn es noch so professionell arbeitet, passiert irgendwo ein kleiner Lapsus. Wenn ich aber bereits im Klappentext über fünf nicht unbedeutende Stolpersteine falle, dann ärgert mich das. Im Buchtext selbst entdeckte ich dann keinen Fehler mehr, weshalb ich davon ausgehe, dass der Klappentext vom Lektorat entweder nur überflogen oder gar nicht redigiert worden ist. Solltet ihr hier auf meinem Bücherblog also Druckfehlern begegnen, macht mich unbedingt darauf aufmerksam. Ich wäre euch dafür dankbar.

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie sass nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. (S. 15)

Tiefgründige Botschaft
Momo ist das erste Werk aus dem Bereich Jugendbücher, das ich hier auf
bookstories vorstelle. Es ist auch das erste Jugendbuch, das ich seit meiner eigenen Jugendzeit, die nun schon bald ein halbes Jahrhundert zurückliegt, gelesen habe. Wie bei den meisten meiner ausgewählten Bücher entscheide ich mich intuitiv für die Lektüre. Obwohl das Buch schon seit vielen Jahren auf meiner Leseliste steht, schien jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich bin kein Anhänger von Jugend- oder Kinderbüchern. Harry Potters Zauberwelt, mit Ausnahme der Filme, konnte mich bisher nicht locken, und auch andere Werke aus der Welt der Magier, Drachen und Fabelwesen nicht. Was nicht bedeutet, dass ich Jugendbücher mit der Welt der Fantastik gleichsetze. Es gibt hervorragende Fantasy-Literatur für Erwachsene, und ebenso gute Jugendbücher mit realen Inhalten. Doch weiss heisst real? So unrealistisch ist das Märchen "Momo" gar nicht. Im Gegenteil. Momos Geschichte transportiert eine sehr wichtige Botschaft, die heute aktueller ist denn je, und für die ich damals vor fünfzig Jahren, als das Buch auf den Markt kam, gewiss nicht bereit gewesen wäre. 

Unverständlich für Kinder
Ist es diese Symbolik, die Michael Endes "Momo" so besonders macht? Meine Tochter ist Lehrerin und hat das Buch ihrer Schulklasse, Kindern im Alter von zehn Jahren, im Unterricht vorgelesen, mit einer eher enttäuschenden Rückmeldung, als ich sie fragte, wie das Buch denn angekommen sei. Die Sprache des Autors sei für die Kinder zu unverständlich, viele Begriffe musste sie erklären. Auch inhaltlich habe die Geschichte die Kinder nicht erreicht. Selbst für Zwölfjährige (im Handel wird eine Altersgrenze ab zwölf Jahren empfohlen), eigne sich das Buch als Vorlesestoff nur beschränkt. Um Kinder zu begeistern, passiere zu wenig.


Kindergeschichte für Erwachsene
Es passiert aber nicht zu wenig. Jedoch zwischen den Zeilen und hinter den Kulissen. Deshalb ist "Momo" etwas Besonderes, deshalb unterscheidet sich "Momo" von anderen Jugendbüchern. "Momo" ist keine Märchengeschichte für Kinder, sondern eine Kindergeschichte für Erwachsene. Dies könnte man so verstehen. Sogar in zweifacher Hinsicht. Denn Momo, das Kind, bringt den Erwachsenen die gestohlene Zeit zurück. In "Momo" sind es die Kinder, die das Wesen der Zeit noch verstehen, die die Erwachsenen vor den Zeitdieben zu warnen versuchen. So ist "Momo" für die jüngere Leserschaft geschrieben, mit einer Botschaft für Erwachsene, doch Kindern oder jüngeren Jugendlichen fehlt die Spannung, und den Erwachsenen mag die Sprache zu einfach zu sein. Vielleicht liess Letzteres auch in mir stellenweise Langeweile aufkommen, denn inhaltlich gibt es an der Geschichte wenig auszusetzen. Mit Ausnahme des Umstandes vielleicht, dass der Autor ausweglos scheinende Situationen oft mit den Worten "doch dann geschah etwas Sonderbares" auflöst, oder dass der Plot (Ende erzählt als allwissender Erzähler und wechselt nur selten zwischen parallel sich abspielenden Handlungssträngen) ohne grosse Spannungselemente relativ simpel konstruiert ist.

Manche Leute waren der Ansicht, Beppo Strassenkehrer sei nicht ganz richtig im Kopf. Das kam daher, dass er auf Fragen nur freundlich lächelte und keine Antwort gab. Er dachte nach. Und wenn er eine Antwort nicht nötig fand, schwieg er. Wenn er aber eine für nötig hielt, dann dachte er über diese Antwort nach. Manchmal dauerte es über zwei Stunden, mitunter aber auch einen ganzen Tag, bis er etwas erwiderte. Inzwischen hatte der andere natürlich vergessen, was er gefragt hatte, und Beppos Worte kamen ihm wunderlich vor(S. 35)

Spirituelle Ansätze
Michael Ende gliedert die Geschichte in drei Teile, die er auch betitelt. Am Ende des Buches finden wir ein Inhaltsverzeichnis mit den einundzwanzig Kapiteln, die ebenfalls entsprechend ihren inhaltlichen Schwerpunkten Überschriften tragen. Im ersten Teil werden Momo und ihre Freunde eingeführt. Neben Momo selbst, deren Äusseres als ein wenig seltsam und ungepflegt beschrieben wird, die in den Ruinen eines alten Amphitheaters vor der Stadt haust, und deren vorzügliche Eigenschaft ein auf ihre Zuhörer nahezu magisch wirkendes Zuhören ist, können durch die Verkörperung von Beppo, dem alten und weisen Strassenkehrer, fast schon spirituelle Ansätze erkannt werden. Beppo geht 
alles viel langsamer und achtsamer von der Hand. Wenn er etwas gefragt wird, lässt er sich für seine besonnene Antwort viel Zeit, und Momo verrät er, dass man beim Kehren der Strasse niemals die gesamte Strasse vor Augen haben darf, weil man dann nämlich niemals ein Ende sieht, sondern dass jeder Besenstrich bewusst geführt werden soll, immer nur der nächste Strich. Schritt, atmen, Besenstrich – Schritt, atmen, Besenstrich. Das kommt schon einem meditativen Tun gleich. Was für ein bewusstes Erleben des Moments.

Die grauen Herren
Im Gegenzug weist Girolamo, genannt Gigi der Fremdenführer, ganz andere Vorzüge auf. Gigi kann erzählen, und zwar das Blaue vom Himmel herab. Die Kinder hören ihm gern zu, und Gigi erzählt niemals dieselbe Geschichte ein zweites Mal. Momos Anwesenheit inspiriert ihn natürlich, weshalb ihm dann noch viel verrücktere Abenteuergeschichten einfallen. So treffen Momo und ihre Freunde sich regelmässig in den Ruinen des alten Amphitheaters und verbringen die Zeit mit Geschichten erzählen, Zuhören und Spielen. Bis die grauen Herren auftauchen, die Gegenstand des zweiten Buchteils sind. Sie rauben den Menschen ihre Zeit, indem sie ihnen, am Beispiel des Friseurs Herr Fusi eindrücklich geschildert, vorrechnen, wieviel Zeit sie in ihrem Leben schon mit sinnlosen Beschäftigungen vergeudet haben, und versprechen ihnen, ihnen Zeit einzusparen und Gewinn bringend anlegen zu können. In Wahrheit geschieht das Gegenteil.


Zeitdiebe
Die grauen Herren breiten sich in der Stadt aus wie die Pest. Aus spiritueller Sicht verkörpern diese grauen Herren das Böse. Sie kommen aus dem Nichts, besuchen jene Menschen, die es zulassen, und lösen sich in Nichts auf, sobald ihnen die Zeit, die sie den Menschen rauben und in Zigarren rauchen, genommen wird. Kälte breitet sich aus, wo immer sie auftauchen. Kälte breitet sich auch in den Herzen der Menschen aus, die von den grauen Herren aufgesucht werden. In ihrem Bestreben, Zeit zu sparen, werden sie immer ungeduldiger und rastloser. Eine innere Leere ergreift sie. Für nichts können sie sich mehr begeistern. Lieblos, monoton und gelangweilt gehen sie ihren Beschäftigungen nach, denn nicht nur ihre Zeit für die schönen und wichtigen Dinge im Leben haben sie verloren, sondern auch deren Essenz, die Zeitqualität des Moments, der ihnen Erfüllung bringt und ihre Herzen wärmt. Durch eine automatisierte Spielpuppe, die Momo geschenkt wird, wollen die grauen Herren auch von dem Kind Besitz ergreifen, was jedoch nicht gelingt. Die Kleine erkennt, was dahinter steckt, tauscht sich mit Beppo und Gigi aus, doch der Versuch, die Menschen aus der Stadt in einer Kundtuung im Amphitheater zu warnen, schlägt fehl. Niemand erscheint, selbst die Kinder, die Momo immer besucht haben, bleiben fern.

Langsam, langsam wanderte das Pendel zurück auf die Gegenseite, aber es erreichte nun nicht mehr dieselbe Stelle wie vorher, sondern es war um ein kleines Stück weitergewandert. Und dort, einen Schritt neben der ersten Stelle, begann aber mals eine Knospe aufzusteigen und sich allmählich zu entfalten. Diese Blüte war nun die allerschönste, wie es Momo schien. Dies war die Blüte aller Blüten, ein einziges Wunder!  Momo hätte am liebsten laut geweint, als sie sehen musste, dass auch diese Vollkommenheit anfing hinzuwelken und in den dunklen Tiefen zu versinken. (S. 163)

Meister Hora und die Stundenblumen
Wie das Böse dann doch besiegt werden kann, erfährt Momo im dritten Teil des Buches. Denn die Schildkröte namens Kassiopeia, übrigens auch ein wunderbares Symbol für Zeit und Langsamkeit, führt das Mädchen zu Secundus Minutius Hora, dem Meister der Zeit, demjenigen, der jedem Menschen seine Zeit zuteilt, dessen Bedeutung wohl dem Göttlichen zukommt, dem Leben, der universellen Kraft und Liebe. Hora, der manchmal alt und dann wieder jung aussieht, offenbart Momo, wie das Sternenpendel der Zeit funktioniert, wie die Stundenblumen entstehen und wieder vergehen, analog der Lebenszeit jedes einzelnen Lebewesens. Jene Stundenblumen, welche die grauen Herren den Menschen aus ihren Herzen stehlen und daraus Zigarren machen. Dieses Aufblühen und Verwelken, dieses mystische Geschehen darf Momo in der goldenen Sternenkuppel an der Niemals-Gasse im Niemand-Haus von Meister Hora bewundern, wobei in ihr die sphärischen Klänge und Stimmen des Universums bleibend erklingen.  Es gilt nun, durch einen ausgeklügelten Plan, den Meister Hora Momo verrät, den grauen Herren, die das Niemand-Haus bereits belagern und mit ihrem Zigarrenrauch die Zeit vergiften, die Meister Hora den Menschen aussendet, den Kampf anzusagen.

"Man wird ganz gleichgültig und grau, die ganze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine Begeisterung, man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern, man verlernt das Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem und man kann nichts und niemand mehr lieb haben. Wenn es einmal so weit gekommen ist, dann ist die Krankheit unheilbar. Es gibt keine Rückkehr mehr. Man hastet mit leerem, grauem Gesicht umher, man ist genauso geworden wie die grauen Herren selbst. Ja, dann ist man einer der ihren. Diese Krankheit heisst: die tödliche Langeweile." (S. 242)
Zu wenig für diese wunderbare Thematik
Das Buch hat mich zuwenig gepackt. Der Funke konnte nicht springen. Ich hatte mir vom Hörensagen mehr erhofft. Mit Ausnahme der tiefen Aussagekraft und der spirituellen Ansätze - und man könnte heute hinter der Manifestation der grauen Herren durchaus eine viel weiterführende Symbolik vermuten - konnte ich in diesem Märchen-Roman nichts entdecken, was in mir Begeisterung ausgelöst hätte. Das Kräftemessen zwischen Gut und Böse ist mir zu blass geraten, ebenso die Figuren, für die Michael Ende mit wenigen Ausnahmen keine charakterlichen Eigenschaften ausgearbeitet hat. Zu oft führen simple Lösungen aus einer vielversprechenden Konfliktsituation. Das Buch ist dennoch lesenswert. Allein schon wegen der wunderbaren Thematik empfehle ich es jedem empfänglichen Leser, und ich zitiere immer wieder gern den Strassenkehrer Beppo mit seinen bewusst geführten Besenstrichen.
Eine gebundene Ausgabe von "Momo" ist in einer Neuauflage mit persönlichen Gedanken des Autors immer noch bei Thienemann erhältlich. Die Illustrationen in meiner Ausgabe wurden von Michael Ende selbst kreiert. Das aktuelle Hörbuch ist letztes Jahr bei Silberfisch erschienen. Zudem sind bei Thienemann im Taschenbuchformat auch Schulausgaben für den Unterricht zu haben.

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