Juni 2023

Revolverchuchi
Peter Hossli



True Crime
Zytglogge Verlag, 226 Seiten

Ersterscheinung 2020



Vermutlich hätte ich dieses Buch nie gelesen, wenn ich es nicht mit bester Empfehlung geschenkt bekommen hätte. Freunde hatten es mir besorgt. Ich hatte ihnen von Alex Capus' Roman "Fast ein bisschen Frühling" erzählt, den sie sich sogleich bestellten und sich beim Lesen an Peter Hosslis Buch erinnerten, ebenfalls eine wahre Kriminalgeschichte aus der Schweiz, die sich ganz in unserer Nähe zugetragen hat.



"Revolverchuchi, Mordfall Stadelmann", so der Titel des Buches, beschreibt ein Verbrechen, das 1957 im Kanton Aargau, in der Nähe von Brugg, tatsächlich geschehen ist. Peter Hossli hat die Vorfälle minutiös recherchiert und daraus einen interessanten und lesenswerten Roman gebastelt, hat Medienberichte, Akten-Aufzeichnungen aus Staatsarchiven, Zeugenaussagen, sorgfältig zusammengetragene Fakten in eine literarische Form gebracht. Peter Hossli ist Journalist und Korrespondent, schreibt fürs Fernsehen, ist kein klassischer Buchautor, der im Belletristik-Genre zuhause ist. 2018 erschien sein erstes Buch "Die erste Miete ging an die Mafia. Was ich bin: Reporter". Diese Liebe zu detaillierten Tatsachenberichten, was für Zeitungen und Magazine wichtig und entscheidend sein mag, ist mir hier in diesem Roman, sofern man die Kriminalgeschichte überhaupt als Roman bezeichnen kann, etwas zuviel des Guten.


Stattdessen fehlt mir das Berührende, die emotionale Tiefe der beiden Hauptprotagonisten, obwohl diesen von Hossli durch die Schilderung ihrer Befindlichkeiten viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Doch gelingt es mir nicht, Mitgefühl oder Sympathien aufzubringen, nicht einmal Abneigung, denn schliesslich ist Max Märki eine bemitleidenswerte Person, schliesslich hat er einen anderen erschlagen. Der Funke wollte bei mir nicht so richtig springen. Mit Ausnahme weniger Stellen, die jene auf der Buchrückseite erwähnte Sensibilität des Autors erkennen lassen, erhielt ich doch eher den Eindruck, als wollte Hossli möglichst viele Details in die Geschichte packen. Gar als Fremdkörper in der Kriminalgeschichte empfand ich die vom Autor eingeschobenen Beschreibungen von Weltgeschehnissen, die sich zur selben Zeit zutragen. Ein ganzes, zwar nur kurzes Kapitel widmet er dem Hund Laika, den die Russen mit einer Rakete ins All schiessen. Da macht sich der Journalismus bemerkbar. Das ist schade für den Roman und reicht meines Erachtens nicht an Alex Capus' Komposition heran, der in "Fast ein bisschen Frühling" historische Hintergründe viel passender eingeflochten hat.

Die Mutter war nicht da, als sich Max mit vier das Bein brach. Die Gelbsucht während der Schulzeit verpasste sie. Nie wechselte sie die Laken, die er noch als Jugendlicher nässte. Sie kannte den Hund nicht, seine erste Liebe, einen Appenzeller, den er zuerst anhimmelte und dann erschoss, weil er ihn nicht behalten durfte. (...) Die Familie wohnte von Baden limmatabwärts in Nussbaumen. Nach der Scheidung 1934 sprach das Gericht dem Vater die Kinder zu, den dreijährigen Max und den zweijjährigen Kurt. Obwohl die Mutter nicht weit von ihnen entfernt wohnte, besuchte sie ihre Buben nicht. Erst in der Oberschule lernte Max sie kennen, da er anstandshalber einmal im Jahr bei ihr vorbeiging. (S. 34)
Der Autor teilt die Geschichte in kurze Kapitel ein, was das Lesen sehr angenehm macht. Jederzeit kann man aussteigen oder sich entscheiden, noch etwas weiterzulesen. Er gibt den Kapiteln Titel und fasst diese in einem Inhaltsverzeichnis zu Beginn des Buches zusammen. Dies ist zwar nicht notwendig, aber informativ. Mir fehlt auch der Buchumschlag. Allerdings ist das Material der Buchdeckel so beschaffen, dass Schmutzflecken sich leicht abreiben lassen. Die Abbildung auf Vorder- und Rückseite zeigen die beiden Täter Max Märki und Ragnhild Flater. Vermutlich hätte ich mir das Buch schon deshalb, wenn ich es aus dem Regal eines Buchladens gezogen hätte, nicht gekauft, da mich die Aufmachung des im Zytglogge Verlag erschienenen Werks zu sehr an eine Biografie erinnert.


Peter Hosslis Sprache ist nüchtern und sachlich, sein von Helvetismen geprägtes Deutsch nicht jedermans Sache. Immer wieder sind gewisse Dialektausdrücke kursiv hervorgehoben und am Ende des Buches in einem Glossar erklärt. Zudem gelingt es dem Autor, die Zeit der Fünfzigerjahre sehr lebendig und anschaulich darzustellen. Nach dem zweiten Weltkrieg herrschten ärmliche Lebensbedingungen, obwohl in der Schweiz im Gegensatz zu anderen Ländern die Wirtschaft boomte. Hossli schildert eindrücklich, welchen Stellenwert Frauen damals in der Schweiz besassen, mit welchen Methoden abgetrieben wurde, was erlaubt war und was verboten, wie wenig Güter und Dienstleistungen damals kosteten oder eben, für wie wenig Geld Verbrechen verübt wurden (Stadelmann musste für viertausendfünfhundert Franken sein Leben lassen). Dass das Verbrechen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird, dass beteiligten Personen Raum gegeben und Hossli sie aus ihrer Sicht erzählen lässt, tut dem Aufbau der Geschichte gut. Zum Schutz ihrer Privatsphäre sind die Namen geändert und im Text mit einem * versehen.

Max kam im November 1956 zum Abendessen. Karin kochte. Ihre Schwester Erika ass mit ihnen am Tisch. Marianne Zemp, die im selben Haus wohnte, brachte eine Flasche Wein mit. Sie trank sie fast allein und stritt - enthemmt durch den Alkohol - mit Max. Er sei en blöde Siech, ein Nichtsnutz, en Plagööri, sagte sie während des Essens. "Die muss nicht so en dummi Schnörre ha", knurrte Max am nächsten Tag, als Kurt auf der Baustelle eintraf. "Warum ist die so?" "Sie ist eine Hure", antwortete Kurt. "Sie verdient das Geld auf der Strasse." (S. 76)
Eigentlich ist "Revolverchuchi" eine tragisch endende Liebesgeschichte. Max Märki, ein tüchtiger Gipser aus Brugg, lernt die Norwegerin Ragnhild Flater kennen, die in die Schweiz eingereist ist und in Luzern in einem Restaurant eine Anstellung als Hilfsköchin findet. Max ist in finanziellen Schwierigkeiten, muss mit einem geringen Einkommen für Alimente aufkommen, die seine Frau Trudi für die gemeinsamen drei Kinder verlangt. Max kommt auf die Idee, ein Ding zu drehen. Mittels Inserat, in dem er günstig ein Auto zum Kauf anbietet, lockt er sein Opfer Stadelmann, einen Handelsvertreter, an. Seiner Liebe Ragnhild erzählt er von seinem Vorhaben. Sie möchte Max helfen, obwohl sie ihm erst davon abrät. Doch ist sie ihm hörig, und sie liebt ihn, und Max schätzt ihr offenes Wesen, denn noch nie hat er von irgend jemandem Aufmerksamkeit und Zuneigung erfahren. Die beiden wollen Stadelmann nicht töten, ihn im Auto nur bewusstlos schlagen, das Geld abknöpfen und ihn dann auf der Strasse liegen lassen.


Doch alles kommt anders. Das Opfer kommt immer wieder zu sich, bis die beiden keinen anderen Ausweg mehr sehen, Stadelmann mit dem Wagenheber regelrecht erschlagen und ihn dann auf einer Brücke über das Geländer in die Reuss werfen. So beginnt die Misere. Lange können die beiden den Vorfall nicht vertuschen, denn ihr Gewissen plagt sie. Nur kurze Zeit später gesteht Max Märki die Tat, die beiden werden verhaftet. Max erhält lebenslänglich, Ragnhild zehn Jahre Zuchthaus und dann Landesverweis. Erst werden sie im selben Zuchthaus in Lenzburg eingesperrt, vier Jahre später wird Ragnhild nach Hindelbank verlegt. Mit Briefen, die sie sich regelmässig schreiben und die von der Gefängnisdirektion zensiert werden, versuchen sie ihre Liebe aufrechtzuerhalten, bis Ragnhild den Kontakt schliesslich abbricht. Sie reist nach dem Aussitzen ihrer Strafe nach Norwegen zurück, heiratet dort. Max wird als Musterhäftling 1972 aus der Haftanstalt Lenzburg entlassen und stirbt im Alter von vierundsechzig Jahren. 

Ragnhild blieb im Auto und beruhigte Rex. Der lebt noch, dachte sie, als sie Stadelmann keuchen hörte. "Schau, dass keiner kommt", befahl Max und öffnete die hintere Wagentüre, hzog Stadelmann an den Beinen aus dem Citroën, hob ihn hoch und legte ihn auf das aus drei waagerechten Stahlrohren bestehende Brückengeländer. Die Silhouetten der Bäume und Büsche, die sich gegen das aufziehende Mondlicht abzeichneten, liessen die Szene auf der Brücke friedlich wirken. (S. 63)
Mir hat das Buch, obwohl reichlich an Fakten, zu wenig atmosphärische Dichte. Hossli hätte mehr daraus machen können, ging mir oft durch den Kopf, denn die Geschichte gibt etwas her. Aber vielleicht ging es ihm auch nicht darum, Dichtungskunst zu erschaffen, sondern einen die Schweiz erschütternden Kriminalfall tatsachengetreu aufzuarbeiten und den Lesern Hintergründe darzubieten. In der Danksagung erklärt Hossli, dass sein Schwiegervater ihm von diesem Mordfall erzählt hat, woraufhin ihm der Fall nicht mehr aus dem Kopf ging. Man findet im Internet die Seite des Autors und auch eine Seite mit Informationen zum Buch. Dort sind ausschliesslich begeisterte Reaktionen und Kritiken nachzulesen. Ich will das Buch auch nicht schlecht machen. Langeweile ist mir beim Lesen nicht aufgekommen. Vielleicht einfach nicht mein Geschmack.

Kurt riet ihm, sich zu stellen. "Die Polizei wird dich todsicher erwischen." Kurt sagte es mit einer Bestimmtheit, die Max aufwühlte. Von nun an fürchtete er, sein Bruder würde ihn anzeigen. An jenem Abend musste Kurt nach Bern. Er lieh den Citroën von Max, da er nicht mit einem DKW in eine Polizeikontrolle geraten wollte. Auf der Landstrasse nach Bern erkannte Kurt am Armaturenbrett Blutspuren. Stadelmann. Er stoppte, öffnete die Türe und übergab sich. (S. 107)
Während der Lektüre fragte ich mich immer wieder, weshalb das Buch "Revolverchuchi" heisst. Die Auflösung erhalten wir erst auf der letzten Seite des Buches. Ohne inhaltlich etwas vorwegzunehmen, lässt sich sagen, dass es sich um den Kosenamen des Kinos Orient handelt, ein Lichtpieltheater zwischen Baden und Wettingen, wo die beiden Brüder Max und Kurt Märki oft verkehrten, und das bis in die Siebzigerjahre Western im Programm hatte, Lassostreifen, die Max sich gerne ansah, und die ihn wohl - Kurts Auffassung nach - zu der blutigen Tat inspiriert hatten. Denn in diesen Western reichte stets ein stumpfer Schlag auf den Hinterkopf des Opfers aus, um es bewusstlos zu schlagen.
Das Buch erscheint im Zytglogge Verlag und ist als gebundene Ausgabe und als eBook erhältlich. 

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