November 2023

Schachnovelle
Stefan Zweig


Novelle
S. Fischer Verlag, 109 Seiten
Ersterscheinung 1943



Stefan Zweig ist kein unbeschriebenes Blatt und kann neben Franz Kafka, Thomas Mann, Heinrich Mann oder Hermann Hesse, um nur wenige aus jener Zeit zu nennen, zu den bedeutensten deutschsprachigen Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts gezählt werden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich musste der Österreicher jüdischer Abstammung 1934 nach London emigrieren, später dann nach Brasilien. In Nati-Deutschland wurde Stefan Zweig auf die Liste der Bücherverbrennungen gesetzt und unter den verbotenen Autoren geführt. "Schachnovelle" ist sein letztes Werk, seine wohl bekannteste Novelle, die er kurz vor seinem Freitod 1942 im brasilianischen Exil verfasste, und die erst ein Jahr nach seinem Tod veröffentlicht wurde.



Mir fiel dieses Büchlein in die Hand, weil mir der Name des Autors beim Durchstreifen der Regale in Gebrauchtbuchläden schon öfter aufgefallen war, und weil ich Novellen grundsätzlich zugeneigt bin. Novellen sind kurz, in angemessener Zeit durchzulesen, und sprechen oft ein bestimmtes psychologisches Thema an. Typische Formelemente einer Novelle werden mit Kürze, Einfachheit und geradlinigem Handlungsverlauf beschrieben, ein in einen Rahmen gesetztes Ereignis mit wenig Charakteren, die einen klaren Konflikt austragen, ist das Leitmotiv und endet in der Regel ohne offenen Schluss. Mir persönlich gefällt das. Man erhält viel Literatur auf wenig Seiten, sofern eine Novelle gut geschrieben ist.


Stefan Zweigs "Schachnovelle" erfüllt alle diese Anforderungen. Es ist ein Buch, das ich nach Beenden gleich wieder von vorne beginnen könnte. So manchen Satz habe ich zweimal gelesen – nicht aufgrund des Unverständnisses, sondern weil Zweigs Sprachkunst mich so fesselt. Freunde der Gegenwartsliteratur mögen seinen Stil vielleicht als blumig konservativ empfinden, als etwas verstaubt, immerhin schrieb Zweig auch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, doch genau diese Art gepflegten Erzählens spricht mich an. Vornehm die Realität reflektierend, mit viel psychoanalytischem Verständnis, zeichnet Zweig seine Figuren; virtuos, ästhetisch, wohl durchdacht klingen seine langen verschachtelten Sätze, die sich nicht selten über eine halbe Seite ergiessen.

Im Prinzip war mir die Tatsache von jeher verständlich, dass ein derart einmaliges, ein solches geniales Spiel sich spezifische Matadore schaffen musste, aber wie schwer, wie unmöglich doch, sich das Leben eines geistig regsamen Menschen vorzustellen, dem sich die Welt einzig auf die enge Einbahn zwischen Schwarz und Weiss reduziert, der in einem blossen Hin und Her, Vor und Zurück von zweiunddreissig Figuren seine Lebenstriumphe sucht, einen Menschen, dem bei einer neuen Eröffnung, den Springer vorzuziehen statt des Bauern, schon Grosstat und sein ärmliches Eckchen Unsterblichkeit im Winkel eines Schachbuches bedeutet - einen Menschen, einen geistigen Menschen, der, ohne wahnsinnig zu werden, zehn, zwanzig, dreissig, vierzig Jahre lang die ganze Spannkraft seines Denkens immer und immer wieder an den lächerlichen Einsatz wendet, einen hölzernen König auf einem hölzernen Brett in den Winkel zu drängen!  
(S. 21/22)

In "Schachnovelle" liegt der Fokus auf drei Schauplätzen: in der Gegenwart beim Ich-Erzähler, in einer zwanzigseitigen Schilderung über den Hauptprotagonisten Czentovic aus der Sicht des Ich-Erzählers, und in einer fast fünzigseitigen, persönlichen Rückschau des zweiten Hauptprotagonisten, Dr. B.. Und alles wird vom Autor gekonnt in das Hauptgeschehen eingeflochten.


Auf einem Passagierschiff auf der Reise von New York nach Buenos Aires zur Zeit des zweiten Weltkrieges begegnet der Erzähler, selbst passionierter Schachspieler, dem Schachweltmeister Mirko Czentovic. Und da ihn "monomanische, in eine einzige Idee verschossene Menschen zeitlebens aufreizen", will er diesen Mann kennenlernen. Eine kleine Gruppe Schachinteressierter, die der namenlose Ich-Erzähler um sich formieren kann, und für die der reiche Geschäftsmann McConnor stellvertretend spielen soll, kann den Weltmeister zu einer Partie Schach bewegen, in der McConnor in vierundzwanzig Zügen unterliegt. Bei der Revanche mischt sich plötzlich ein unbekannter Zuschauer ein, der McConnor über die Schulter Ratschläge erteilt, aufgrund derer ein Remie erzielt werden kann. Czentovic will dies nicht auf sich beruhen lassen. Er schlägt für den Folgetag eine Revanchepartie vor. Als Gegner möchte man den Fremden gewinnen, der nach besagter Schachpartie verwirrt den Saal verlassen hat. Der Ich-Erzähler findet ihn auf dem Promenadendeck in einem Liegestuhl wieder, wo ein Gespräch zustande kommt und Dr. B., so der Name des Unbekannten, von sich zu erzählen beginnt.

Hier wechselt der Fokus der Geschichte. In der längsten direkten Rede, die mir in einem Buch begegnet ist, erfahren wir auf rund fünfzig Seiten, um wen es sich bei diesem mysteriösen Fremden handelt. Dr. B., österreichischer Emigrant und Rechtsanwalt, Landsmann des Ich-Erzählers, erzählt von seiner Isolationshaft durch die Gestapo in seinem Heimatland. Über eine Zeitspanne von nahezu einem Jahr sperrt man ihn in einem spartanisch eingerichteten Hotelzimmer ein, in dem auch die Gestapo-Offiziere logieren. Er wird nicht wie andere ins Konzentrationslager gesteckt, da man sich erhofft, mittels dieser Vernehmungsmethode Machenschaften seiner Kanzlei, sprich die Vermögensverwaltung der Klöster und des alten Kaiserhauses aufzudecken. Dieser zeitlose Aufenthalt im Nichts, wie Dr. B. es nennt, raubt ihm beinahe den Verstand, da er nichts hat ausser ein Bett, eine Waschschüssel, einen Stuhl, eine immer gleichaussehende Tapete, und eine Tür, durch die ihm immerzu vom selben Wärter das Essen hereingebracht wird.

Mir begannen die Knie zu zittern: ein Buch! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die blosse Vorstellung eines Buches, in dem man aneinandergereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten und Blätter, eines Buches, aus dem man andere, neue, fremde, ablenkende Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte, hatte etwas Berauschendes und gleichzeitig Betäubendes. (S. 66)
Bei einer der Vernehmungen, denen oft zweistündige Wartezeiten im Stehen vorausgehen, kann Dr. B. ein Buch aus der Manteltasche eines Offiziers entwenden und bis in die Zelle schmuggeln. Dort stellt er fest, dass er nichts weiter als ein Schachrepetitorium mit 150 aufgezeichneten Meister-Partien ergattern konnte. Um seine intellektuelle Widerstandskraft zu erhalten, beginnt er, das Nichts mit dem Auswendiglernen dieser Schachpartien auszfüllen. Anfänglich verwendet er die karierte Bettdecke als Schachbrett und geformte Brotkrümel für die Figuren, doch schon bald lernt er, diese Partien nur noch in seinem Kopf nachzustellen. Als ihm auch dies zu langweilig wird, beginnt er gegen sich selbst zu spielen. Zwei Ichs beginnen sich in ihm zu formen, ein Weiss Ich und ein Schwarz Ich, die sich gegenseitig bekämpfen, bis sein Bewusstsein sich spaltet und ein Nervenfieber ihn ergreift, das zu seiner Entlassung führt.

Stefan Zweig veranschaulicht auf eindrückliche Weise, wie nahe Genialität und Wahnsinn beisammen liegen und zu welchen Leistungen das menschliche Gehirn fähig ist. Auch treffen zwei Charaktere aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Dem intellektuellen, von der Isolationshaft gebrochenen Aristokraten Dr. B., der noch nie vor einem realen Schachbrett gesessen hat und rein visuelle Leistungen vollbringt, steht Czentovic gegenüber, ungebildeter Bauernsohn eines Donauschiffers, der keine Blindpartien spielen kann und nur durch den Blick aufs Brett reüsiert. Als Junge lernt Czentovic das Spiel durch Zuschauen der nachmittäglichen Partien zwischen dem Gendarmeriewachtmeister und dem Dorfpfarrer, bei dem er nach dem Tod seines Vaters unterkommt. Durch unermüdliches Training entwickelt er sich zum Fachidioten und Weltmeister, sein Erfolg steigt ihm in den sonst leeren Kopf, was ihn zu einem eitlen und habgierigen Menschen macht.


Das Büchlein des S. Fischer Verlags schliesst mit einem Nachwort von Siegfried Unseld, dem Verleger, der fünfzig Jahre lang den Suhrkamp Verlag geführt hat. Wer einen klaren Umriss, eine profunde Zusammenfassung der Novelle, einige Deutungen der Beweggründe Stefan Zweigs und ein paar Fakten zum Autor erfahren möchte, kann sich dieses Nachwort noch zu Gemüte führen. Wer dies nicht tut, hat auch nichts verpasst.

Wir blickten mit Erwartung eines besonderen Zuges sofort auf das Brett. Aber nach einer Minute geschah, was keiner von erwartet. Czentovic hob ganz, ganz langsam den Kopf und blickte - was er bisher nie getan - in unserem Kreise von einem zum andern. Er schien irgend etwas unermesslich zu geniessen, denn allmählich begann auf seinen Lippen ein zufriedenes und deutlich höhnisches Lächeln. Erst nachdem er diesen seinen uns noch unverständlichen Triumph bis zur Neige genossen, wandte er sich mit falscher Höflichkeit unserer Runde zu. "Bedaure - aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen meinen König?"  (S. 106/107)
Die Novelle wurde seit Erscheinen in zahlreichen Verlagen veröffentlicht, auch als Textausgabe mit Kommentaren, Interpretationen und Materialien für den Schulunterricht. Auch heute ist das Buch noch als Taschenbuch oder gebundene Ausgabe in verschiedenen Verlagen erhältlich.

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