Rezension vom Juli 2023
Roman
Originaltitel: Summer Crossing
Erste Buchausgabe 2005
Gelesene Ausgabe: Kein & Aber
Auflage 2006
139 Seiten
Der feinen Gesellschaft abgeneigt
Die Handlung spielt Mitte der 1940er-Jahre, vermutlich in dem Jahr, als Truman Capote die Geschichte auch geschrieben hat. Grady McNeils Eltern sind sehr wohlhabend, sie bewohnen ein grosses Apartment auf einem ganzen Stockwerk des Plaza-Buildings am Central Park in New York, und sie besitzen ein Haus in Cannes in Frankreich, das nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wieder zugänglich sein soll. Dorthin legen sie zu Beginn der Geschichte mit der Queen Mary ab, um den heissen Sommermonaten in New York zu entkommen. Grady, gerade mal siebzehn, ein ambivalentes, eher distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter pflegend, geht nicht mit und will den Sommer allein in der Stadt verbringen. Sie ist der feinen Gesellschaft abgeneigt, pflegt seit kurzer Zeit eine Liebschaft mit Clyde, einem jüdischen Jungen aus Brooklyn, der als Parkwächter arbeitet, und von dem Gradys Eltern nichts wissen, nicht einmal Peter Bell, langjähriger Vertrauter der Familie, Wunschschwiegersohn und Gradys einziger wirklicher Freund.
Grady und Clyde
So zieht sie mit Clyde und seinen Kumpels, die ihr nicht sonderlich angetan sind, umher, geht zur Abwechslung einmal mit Peter aus, und verbringt viele Tage und Nächte mit Clyde in dem bereits mit weissen Laken verhüllten Apartment ihrer Eltern im Plaza. Nicht selten geraten Clyde und Grady aneinander, um sich im nächsten Augenblick wieder zu versöhnen, oft ist Grady mit ihren Gedanken bei Peter, ihre Beziehung zu Clyde kommt mir vor wie eine Rumba, in der die Tanzpartner sich jäh voneinander entfernen, um im nächsten Augenblick wieder aufeinanderzutreffen. In einem Anflug jugendlichen Leichtsinns heiraten Grady und Clyde nachts um zwei in New Jersey, woraufhin Grady auch seine Familie kennenlernt. Eine Familie, in der eine Vaterfigur fehlt und die Mutter alleinerziehend eine Bande Kinder unter ihren Fittichen hat. Eine Familie, in der Becky, die Verlobte von Clyde, ein- und ausgeht.
Beziehungsdramen
Später, allein in der elterlichen Wohnung, während in Clydes Familie der Haussegen schief hängt, kommen Grady erneut Zweifel, ob Clyde auch wirklich der Richtige für sie ist. Unerwartet taucht Peter auf, er duscht in der Wohnung, was ein weiteres Indiz für seine Nähe zur Familie der McNeils ist. Die beiden führen ein kurzes Gespräch, wobei Grady aufgeht, dass Peter ihr tatsächlich zugeneigt ist, dieser aber wohl erkennt, dass Grady etwas vor ihm verbirgt. Enttäuscht zieht er ab, in der Folge steigt Grady in ihr Auto und fährt ziellos durch die Vororte New Yorks, bis sie am Meer in New Hampton landet.
Folgenschweres Wiedersehen
Dass die Geschichte kein Happy End hat, erkennen wir schon an einer Stelle in der Mitte des Buches. Dort steht, dass einige wenige Menschen in Gradys Aura eigenwilligen und privilegierten Zaubers spüren, dass sie ein Mädchen ist, dem etwas widerfahren würde. Grady verbringt die nächsten zwei Monate bei ihrer Schwester und ihrer Familie in New Hampton am Meer, stellt fest, dass sie schwanger ist, sucht den Rückzug in den Dünen, während Clyde mit der Frage zurückbleibt, wo seine Frau abgeblieben ist, und ob sie sich wohl meldet, und auch Grady befindet sich in dieser abwartenden Haltung. Durch den Liftboy des Plaza erfährt Clyde den Ort ihres Aufenthalts, woraufhin er sie mit seinem Kumpel aufsucht - ein folgenschweres Wiedersehen. Der Schluss mag plötzlich kommen, etwas abrupt erscheinen. Die Geschichte hätte noch viele Seiten weitergehen können, aber vielleicht wollte Capote am Ende aussteigen. Jedenfalls soll das Manuskript der harschen Selbstkritik des Autors zum Opfer gefallen sein.
Wunderbare Wortbilder und Erzählperspektiven
Grady verkörpert die stille Rebellin. In stummem Widerstand sucht sie die eigene Rolle ihres Daseins, mit Clyde und seinen Kumpeln das Unbekannte. In einer ungleichen Beziehung klaffen Welten auseinander - Clydes beschränkter Horizont auf der einen Seite, Gradys Hochnässigkeit auf der anderen. In eindrücklichen Bildern schildert Capote beide Denkweisen und Wahrnehmungen, wechselt die Erzählperspektiven, spielt hierfür geschickt mit Sprachausdruck und Länge der Sätze, wobei niemals etwas konstruiert wirkt. Jedes Wort scheint an seinem Platz, manchmal ausholend, aber nie langatmig, fliesst die Erzählung wie das Plätschern eines Baches, wie ich das auch schon bei Siegfried Lenz in 'Schweigeminute' beobachtet habe, nur dass Capote hierbei unerreicht bleibt. Zahlreiche Stellen könnte ich hier anführen, die ich mehrmals gelesen habe, weil sie sich so wohlklingend anhören; nahezu auf jeder Seite dieses kurzen, in sechs Kapiteln eingeteilten Buches lassen sich solch wunderbare Wortbilder finden. Ich freue mich schon auf sein nächstes Buch.