Rezension vom Oktober 2023

Spätholz
Walther Kauer

Roman
Erste Buchausgabe 1976
Gelesene Ausgabe: Benziger Verlag
2. Auflage 1976
255 Seiten



Erinnerungen an die rororo-Ausgabe
Mit 'Spätholz' wende ich mich wieder einem Buch zu, das wir damals zur Schulzeit im Deutschunterricht gelesen haben. Ich kann mich noch an das gelb/orangefarbene Buchcover des 1981 im rororo-Verlag erschienenen Taschenbuchs erinnern, worauf der Autor spazierend mit einem Hund abgebildet ist. Die Geschichte selbst scheint in weite Ferne gerückt zu sein, nur Weniges ist mir noch geblieben, wie bei einem Film, in dem man bei gewissen Szenen glaubt, ihn schon einmal gesehen zu haben. Ich schreibe das hier der langen Zeitspanne zwischen den beiden Lesedurchgängen zu, denn die Geschichte selbst ist keinesfalls so unbedeutend, dass man sie vergessen müsste. Diesmal
 habe ich mir die gebundene Ausgabe aus dem Programm des Benziger Verlags besorgt, mit dem originellen Schutzumschlag aus Einschlagpapier. Durch diese unglatte Oberfläche fühlt sich das Buch in der Hand sehr angenehm an.
Der Wandel der Zeit
Der Schweizer Autor Walther Kauer ist heutzutage eher unbekannt. Nach seinem tödlichen Motorradunfall 1987 gerieten seine Romane in Vergessenheit. Sein erstes Werk 'Schachteltraum' aus dem Jahr 1976 wurde zuerst im DDR-Verlag Volk und Welt veröffentlicht, nachdem der Schweizer Lenos Verlag aus Kostengründen ablehnen musste. Dann wechselte Kauer zum Benziger Verlag, der
1994 vom Patmos Verlag übernommen wurde. Aber auch diesen Verlag gibt es heute nicht mehr. Der Wandel der Zeit eben. Auch 'Spätholz' handelt weitgehend vom Wandel der Zeit, nur vor anderem Hintergrund. Im Jahr 2000 hat der Lenos Verlag, der hauptsächlich arabische Autoren im Programm hat, die Werke einiger in Vergessenheit geratener Schweizer Autoren neu herausgebracht, darunter auch 'Spätholz' von Walther Kauer. Eine Taschenbuchausgabe erschien erst vor zwei Jahren neu. So besitzt meine gebundene Ausgabe des Benziger Verlags bereits antiquarischen Wert.
Kauer trifft den Ton des Volkes
Kritische Blicke auf soziale und politische Strukturen und ungerechte Arbeitsverhältnisse prägen das Gesamtwerk von Walther Kauer. Vor dem Hintergrund wechselnder, sich verändernder Gesellschaftsstrukturen, Lebensbedingungen und Landschaften während des Zwanzigsten Jahrhunderts erzählt er aus der Sicht des einfachen Arbeitertums. Kauer sagte einst über sein Schreiben, selbst wenn er den Ton des Volkes treffe, sei er noch lange kein helvetischer Konsalik. Damit wollte er sich wohl klar von der Unterhaltungsliteratur abgrenzen. Kauers Sprache, durchtränkt von Helvetismen wie ein Löschblatt, ist zwar keine anspruchsvolle Prosa, aber eine treffende, unsentimentale, direkte und angenehm zu lesende Sprache.

Rocco folgte dem Mann über die schmale Barackenveranda mit dem dünnen Holzgeländer; zwischen den roh gefügten Brettern sah er tief unter sich den Abgrund. Hinter der Staumauer staute sich bereits glasblaugrün das Wasser der Terza. Wie gross wird eigentlich dieser See, fragte Rocco. Soll das Wasser wirklich bis zur vollen Höhe dieser Mauer hinaufreichen? Natürlich. Der See wird gut fünfzehn Kilometer lang. Und wenn der Damm bricht? fragte Rocco. Was dann? Das ganze Terzone wird doch von diesen Wassermassen leergefegt wie eine Polentaschüssel.
(S. 41/42)

Kauers Erzählstil der indirekten Rede
Auffallend ist Kauers häufige Anwendung der indirekten Rede. Wer diesen Erzählstil mag, kommt hier auf seine Kosten. Diverse Textsequenzen hatte ich für mich gedanklich in direkte Dialoge umformuliert, um zu sehen, wie sich dadurch ihr Ausdruck verändert. Figuren und Szenenbilder lassen sich mithilfe von Dialogen oft lebendiger, lebensnaher, dramatischer gestalten. Eine angenehme Mischung zwischen indirekter und direkter Rede wäre zur Auflockerung des Textes ebenfalls denkbar. Das scheint aber nicht Walther Kauers Stilmittel zu sein, der seine Figuren vorwiegend erzählend in das Geschehen einzubinden pflegt. Wohl gibt es Dialoge. Sie sind aber rar, nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt, und als fortlaufender Text arrangiert. In diesen Erzählstil musste ich mich zuerst einlesen. Nichtsdestotrotz bleibt Kauers Tonfall, obwohl ungeschmückt und immer auf den Punkt zielend, ein angenehm warmer. 


Ein Tessiner Heimatroman
'Spätholz' ist ein Tessiner Heimatroman. Kauer muss den Aufwand nicht gescheut haben, fundiert für dieses Werk zu recherchieren, denn er schildert anschaulich, mit viel Verständnis und Fachwissen über Traditionen, Sitten und Bräuche, über das harte Arbeitsleben der damals noch ohne Technik und Strom auskommenden einfachen Bauern in dem Tessiner Tal Terzone. Die von ihm beschriebene Gegend ist wohl erfunden, denn in Google lässt sich der Ort Terzone am Fuss des Monte Lema nicht finden, und mit dem Nachwort im Buch lässt der Autor dies auch durchblicken. Trotz der Liebe zur detailgetreuen Abbildung verliert er nie die Gesamtschau aus den Augen und langweilt den Leser nicht mit langen Beschreibungen.

Wenn auf dem Monte Lema der erste Schnee fiel, wurden die Häuser auf La Paz verriegelt, winterfest gemacht, das Vieh zusammengetrieben, und die ganze Bewohnerschaft stieg talwärts, dem Dorf Terzone zu, wo der Hanf in Reife stand und der Roggen gilbte. Der Mais wurde geerntet und in dicken Zöpfen an die Balustraden der Innenhöfe der Häuser gehängt, der Tabak wurde gebüschelt und gegärt und ebenfalls aufgehängt. (S. 74)
Hauptplot mit Rückblenden
In den Hauptplot – der siebzigjährige Bauer Rocco Canonica verbringt die Nacht wach in der Küche seines Hauses und wartet mit geladenem Gewehr auf die Gemeindearbeiter, die früh morgens seinen Nussbaum fällen wollen – flechtet der Autor immer wieder Erlebnisse aus Roccos Vergangenheit ein. Oder umgekehrt: zwischen all den Rückblenden aus Roccos Vergangenheit, durch die wir auch mit dem Leben der Tessiner Bauern im frühen Zwanzigsten Jahrhundert vertraut gemacht werden, kehren wir immer wieder an den Küchentisch zurück und später auch in das aktuelle Geschehen am Folgetag. So lässt Rocco sein Leben Revue passieren, denkt über seine beiden Söhne nach, über seine Eltern, seine Frau Teresa, oder über den Wechsel im Bürgermeisteramt, wo der alte, verständnisvolle Sindaco durch seinen erfolgsorientierten Sohn abgelöst wird, oder über den Hausierer Giancarlo, Freund der Familie. Das Buch lebt von Roccos Monolog, diesen zahlreichen Kabinettstückchen, diesen wunderschönen, kleinen Lebensstationen.



Ein menschenfeindlicher Eigenbrötler
Doch der Erzähler Rocco ist keine sympathische Figur. Er ist ein bodenständiger Bauer, ein sturer, störrischer, grimmiger Mensch mit Prinzipien, die längst überholt sind. Das Unverständnis über die Veränderungen in seinem Tal und die Enttäuschung über den Verlust seiner Grundfeste lassen ihn vereinsamen und menschenfeindlich werden. Er kann sich nicht anpassen, Technisierung, Modernisierung, Landflucht der Tessiner Familien und Zuwanderung einer wohlhabenden Gesellschaftsschicht werden ihm zur unüberwindbaren Hürde. Er hat sich zurückgezogen, seit mehr als zwanzig Jahren bewirtschaftet er seinen Hof allein, nachdem er seine beiden Söhne Giancarlo und Ernesto zum Teufel gejagt und seine Frau Teresa diese Trennung nicht überlebt hat. Lieber auf der Baustelle bei der neuen Staumauer arbeiten die beiden Nichtsnutze, anstatt ihm auf dem Hof zu helfen, denkt er, und weil es wegen Frauengeschichten des älteren Sohnes zu einem heftigen Streit zwischen Vater und Sohn kommt, vertreibt Rocco ihn aus dem Haus, und der Jüngere zieht mit. Damit setzt Rocco sich den Grundstein für ein Leben als Eigenbrötler und Eremit.



Heidnische Bräuche und die Kirche
Ein sehr gelungenes Kapitel ist das vierte, wo sich der Erzpriester des Dorfes und der Hausierer Giancarlo ein Duell liefern. Um die Wette eifern sie mit der Segnung und Beräucherung einer gefundenen Wasserquelle und der neu gebauten Wasserleitung aus Holzkäneln, die das Wasser vom Monte Lema bis zum Hof der Canonicas führen soll. In diesem Kapitel werden die kirchlichen Traditionen herrlich aufs Korn genommen und in humorvoll zynischem Unterton gezeigt, wie bei den Bewohnern des Tals, obwohl brave Kirchgänger, heidnische und spirituelle Bräuche damals Gang und Gäbe waren.

Es sprach sich natürlich herum, dass Giancarlo mit seiner Wünschelrute mehr Erfolg gehabt hatte als der Erzpriester mit seinem Bittgang. Und seither waren sich Giancarlo, der Hausierer und Rutengänger, und Don Cesare, der Erzpriester, spinnefeind. (...) Seither wechselten die beiden kein Wort miteinander. Dafür besegneten und beräucherten sie sich gegenseitig und hinterrücks Weiden und Wälder, Wiesen und Hühner, Häuser und Ställe, Hunde und Schafe und nicht zuletzt noch die kleinen Kinder, die im Terzone zur Welt kamen.
(S. 127)
Der alte Nussbaum
Nun soll Roccos Nussbaum gefällt werden. Nach siebzig Jahren fällt er den Launen eines deutschen Ferienhausbesitzers zum Opfer, da der alte Baum die Sicht auf den See versperrt. Diese Fällung wiegt schwer, da der Baum damals zum Anlass von Roccos Geburt vom Vater gepflanzt wurde, unter Zugabe der Plazenta. Mit dem Untergang dieses alten Lebensbaumes würde wohl auch Roccos Leben zu Ende gehen. An den nun sichtbaren Jahresringen kann Rocco Parallelen zu seinen eigenen Lebensstationen erkennen: das Ereignis des grossen Feuers, das der Baum zwar überlebt, Roccos Eltern aber das Leben gekostet hat, die schweren Jahre nach dem Brand, in denen der Baum um sein Überleben kämpfte, während Rocco mit seiner Frau Teresa den Hof wieder aufbaute. Und nun möchte der deutsche Ferienhausbesitzer auch noch das Nussbaumholz für die Möbelherstellung kaufen. Gottverdammt nochmal. Nicht einmal in solchen Momenten, die durchaus Sentimentalität erlauben, verliert der Autor den Blick für eine nüchterne Betrachtung.

Sein Nussbaum hatte für ihn Buch geführt. Jahr für Jahr hatte er seinem Umfang einen Doppelring beigefügt, in einer Sprache, die Rocco vertraut war. Aus dem hellen Frühholz, so hatte ihm sein Vater erklärt, konnte ein Bauer ablesen, wie Frühjahr und Sommer sich angelassen hatten, wie die Ackerfrüchte und das Heu gediehen waren. Und aus dem dunkleren Spätholzring, den der Baum erst im Spätherbst machte, ersah er, wie die Weinernte gewesen war in jenem Jahr, und wieviel Wasser der Berg hergegeben hatte.  (S. 217/218)
Die dunklen Jahresringe
'Spätholz' ist ein lesenswertes Buch. 1983 wurde der Roman verfilmt. Spätholz nennt man jenen Teil des Wachstums an einem Baum, der im späten Herbst gebildet wird und die dunklen Jahresringe bildet. An ihnen kann man ablesen, wie viel Wasser die Saison gebracht hat. Ein nahezu ironisches Gleichnis, wenn man bedenkt, mit welchen Wassermassen zu rechnen ist, wenn am Ende des Tages der Staudamm oberhalb des Terza-Tals bricht.



Eine Taschenbuchausgabe und das eBook ist heute im Lenos Verlag erhältlich.

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