Rezension vom August 2023

Traum im Polarnebel
Juri Rytchëu

Roman
Erste Buchausgabe 1968
Gelesene Ausgabe: Unionsverlag
3. Auflage 1991
369 Seiten



Die Tschuktschenhalbinsel
Dieses Buch liest man am besten im Winter an einem wärmenden Kaminfeuer. Schon der Titel verrät, dass wir uns mit 'Traum im Polarnebel' in die Kälte begeben. Wohin genau, erfährt man in der Beschreibung über den Autor im Klappentext und auf dem Vorsatz des Buches, der eine Landkarte abbildet. Juri Rytchëu kam 1930 als Sohn eines armen Jägers in der Siedlung Uelen auf der Tschuktschenhalbinsel im äussersten Nordosten Sibiriens zur Welt, im selben Jahr, in dem erstmals die tschuktschische Schriftsprache fixiert wurde. Als erster Schriftsteller eines Volkes mit nicht mehr als zwölftausend Menschen bringt Rytchëu den Lesern mit seinen Romanen und Erzählungen den Legendenkreis eines vergessenen Volkes und einer bedrohten Kultur näher. Juri Rytchëu lebte von 1930 bis 2008 und hat während seines Wirkens auch russische Klassiker in die tschuktschische Sprache übersetzt.



Walrosshäute, Seehundfett und Tranlampen
Ich nehme es gleich vorweg: 'Traum im Polarnebel' ist kein Buch, dass man unbedingt gelesen haben muss. Trotzdem empfehle ich die Lektüre. In einer ruhigen, bildgewaltigen, unverblümten Sprache, die mich etwas an Hemingways Schlichtheit und Härte erinnert, führt uns der Autor die nackte Realität, den existenziellen Überlebenskampf eines Naturvolkes in unmenschlichen Verhältnissen nördlich des Polarkreises vor Augen. Vielleicht ist auf den knapp 370 Seiten etwas viel von Walrosshäuten, Seehundfett und Tranlampen die Rede, aber es stört nicht – im Gegenteil, es versetzt den Leser gnadenlos in eine Welt an der unwirtlichen Eismeerküste der Tundra und in den Alltag dieser auf primitivste Weise lebenden Tschuktschen.
Abseits des Weltgeschehens
Die Geschichte beginnt 1911, ein paar Jahre vor Ausbruch 
des ersten Weltkrieges, was auf der Tschuktschenhalbinsel allerdings kaum eine Rolle spielt. Da könnte schon eher über die Zukunft des Tschuktschenlandes sinniert werden, nachdem dort die 'Weissen' durch den Tauschhandel mit den 'Eingeborenen' zu Reichtum gelangen, oder 1917 das Zarentum gestürzt wird und Lenin mit den Bolschewiki in der Sowjetunion die Macht ergreift. Dies wird Ende des Buches auch kurz erwähnt, denn die Geschichte spannt sich über einen Zeitrahmen von acht Jahren.


Ein Unfall mit drastischen Folgen
Alles beginnt damit, dass ein amerikanisches Schiff im Packeis stecken bleibt und an die Küste gedrückt wird – vor der Siedlung Enmyn, wo einige Tschuktschen in ihren Jarangas leben. Beim Versuch, die Bordwand vom Eis loszusprengen, verletzt sich der junge Kanadier John MacLennan beide Hände. Kapitän Hugh, dem Siedlungsältesten der Tschuktschen durch gelegentlichen Tauschhandel bekannt, bittet die Tschuktschen, John auf Hundeschlitten in den fernen Ort Anadyr in eine Krankenstation zu bringen und verspricht ihm dafür Waren und Winchestergewehre. Unterwegs erleidet John den Wundbrand, sodass sie im Lager der Rentiertschuktschen Zwischenhalt machen müssen. Dort wird der Patient von der Schamanin Kelana behandelt. Sie muss ihm sämtliche Finger amputieren. John ist danach geheilt, weshalb die drei Tschuktschen Orwo, Armol und Toko mit ihm an die Küste zurückkehren. In der Zwischenzeit hat das Schiff aber günstige Wetterbedingungen ausgenutzt und ist ohne den jungen Kanadier, Freund und engsten Vertrauten des Kapitäns weggefahren. John wird seinem Schicksal überlassen.

Stell dir aber unser Leben vor, wenn wir nach einer schlechten Herbstjagd keine Vorräte anlegen konnten und ein strenger, stürmischer Winter das Meer so stark vereisen lässt, dass der Seehund nirgendwo seinen Kopf herausstecken kann. Dann kommt der Hunger, und mit dem Hunger kommen die Krankheiten. Die Menschen sterben wie die Fliegen im Frühfrost. Dann wirst du die Abfälle aus den Fleischgruben, verfaultes Fleisch essen und Seehundriemen kochen, nur um dir irgendwie den Bauch zu füllen.  (S. 96)

Keine echten Menschen
Bereits mit dieser Begebenheit, indem ein Kamerad und Freund einfach zurückgelassen und seinem Schicksal überlassen wird, möchte der Autor auf eine Wesensart der zivilisierten Welt hindeuten, die den Tschuktschen fremd ist. 'Weisse', wie sie bei ihnen genannt werden, sind keine echten Menschen. Und auch in der zweiten Hälfte des Buches, wo Handelsgüter und Technik vermehrt auf das Jagdverhalten und den Alltag der Tschuktschen Einfluss nehmen, arbeitet Rytchëu immer wieder scharf die Gegensätze zwischen der zivilisierten Welt und dem Naturvolk heraus, ohne die Werte seines Volkes in ein besseres Licht rücken zu wollen. Ihm geht es nicht darum, anzuklagen, sondern um die Lebensweise dieser Menschen näherzubringen - ihre Denkweise, Sitten und Bräuche, ihren Legendenkreis, der auf der archaischsten Form des Schamanismus beruht.

"Warum haben Robben einen so menschlichen Blick?" fragte John. "Sind sie etwa auch mit einem Volke verwandt?" "Warum nicht?" meinte Toko. "Jedes Tier hat unter den Menschen Verwandte. Diejenigen unter uns aber, die der Wind mit sich fortträgt und lange Zeit im Eis gefangenhält, verwandeln sich in Teryken und Werwölfe. Der Mensch verwildert dort und kann kein menschliches Leben mehr führen. Er irrt durch die Tundra und das Gebirge, überfällt wilde Tiere und isst ihr rohes Fleisch." (S. 122)

Aus einem Winter wird ein ganzes Leben
John MacLennan, in Ontario beheimatet, muss den harten Winter mit den Tschuktschen verbringen. Er findet Unterkunft in der Jaranga von Toko und Pylmau mit ihrem kleinen Sohn Jako. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, nicht nur ohne Hände, auch mit den Gepflogenheiten seiner neuen Mitmenschen zurechtzukommen, gelingt John immer mehr, sich der Lebensweise der Tschuktschen anzupassen. Er lernt ihre Sprache, lernt ohne den Gebrauch von Fingern zu jagen und wie die anderen in der rauhen, eiskalten Wildnis zu überleben – und kommt nach anfänglichen Schwierigkeiten bald zum Entschluss, nicht mehr in die Zivilisation zurückkehren zu wollen. 


Ein wahrer Mensch
Dann geschieht ein tragischer Zwischenfall: sein Freund und Gastgeber Toko kommt beim Jagen im Packeis ums Leben, wofür John sich die Schuld gibt. Zuhause wäre er verurteilt und ausgegrenzt worden, die Tschuktschen hingegen tragen ihm nach einer schamanistischen Befragung des Toten im Beisein der Götter keine Schuld auf, sondern Verantwortung, indem er von nun an für Tokos Familie aufkommen darf. Dass er Pylmau sogar zu seiner Frau nehmen kann, fällt John nicht schwer, da er schon vorher Gefühle für sie entwickelt hat. So gewinnt John nicht nur eine neue Familie, sondern auch eine neue Lebensweise. Bewusste, aufrichtige Werte im Leben verändern ihn und machen einen neuen Menschen aus ihm, einen wahren Menschen, wie die Tschuktschen über sich selbst sagen.

Das gewöhnliche Leben im ewigen Eis
Die Geschichte besitzt keinen typischen Spannungsbogen. In dreissig überschaubaren Kapiteln, was angenehm zu lesen ist, legen wir uns mit den Tschuktschen nachts in die Felle, stehen morgens in aller Früh auf, um mit den Männern auf die Jagd zu gehen, wir vermissen die Sonne nicht, die im Winter nicht kommt, da man nichts anderes kennt, nehmen mit den Frauen Robben aus, kochen Seehundfleisch, verarbeiten Rentier- und Seehundfelle, zünden Tranlampen an und sorgen für Wärme in den Jarangas, wir verbringen die Abende am Feuer im nicht beheizten Teil, dem sogenannten Tschottagin, besuchen die Rentier-Tschuktschen, die als Nomaden mit den Rentierherden ziehen, oder den Händler Carpenter, der an der Beringstrasse ein Leben mit den Eskimos führt. Wir verehren die Götter, schmieren Götzenbildern Seehundfett um den Mund, nehmen an Beerdigungsritualen teil, finden einen toten Wal am Strand, dessen Fleisch und Fett die Vorratskammern füllt, oder sterben mit Johns kleinem Töchterchen in einem harten Winter in tiefem Frost und Schneestürmen ohne Nahrung. Das gewöhnliche Leben macht dieses Buch aus. Nicht der Aufbau von Spannung oder unerwartete Wendungen.

Der John von gestern war ein anderer gewesen und dem heutigen so unähnlich, dass er ihn wie einen Fremden beurteilte. Für sein gestriges "Ich" konnte er nur Mitleid und Verachtung empfinden: Schwäche und Feigheit und tierische Todesangst waren in dem anderen zurückgeblieben. Selbst die gestrige Müdigkeit war verflogen. Er atmete leicht, und der Kopf war klar. Nur im Herzen war Trauer über den Verlust eines nahestehenden Menschen, doch unbelastet und hell wie der junge Tag. (S. 137)
Es bleiben fremde Schicksale
Und doch hätte mich interessiert, dies scheint Nebensache, doch unter den gegebenen Umständen wissenswert, wie die Tschuktschen, eingepackt in decke Felle, ihre Notdurft verrichten, wenn bei frostigen Temperaturen von minus vierzig Grad schon die Spucke auf dem Weg zum Boden zu Klumpen gefriert. Auf der anderen Seite ist wunderschön beschrieben, wie Johns erster Kuss Pylmau irritiert. Diese Berührung beider Lippen als Ausdruck der Liebe ist den Tschuktschen fremd. Rytchëu wechselt auch öfter die Erzählperspektive und lässt so Gedanken verschiedener Personen lebendig werden, dies vorwiegend im ersten Drittel des Buches. Trotz allem will es mir nicht gelingen, tief in die Figuren einzudringen, es bleiben fremde Schicksale in einer gut erzählten, handlungsbetonten Geschichte.



John bleibt standhaft
John MacLennan, der im Verlauf der Jahre durch den Besuch von Händlern, russischen und amerikanischen Schiffs- und Expeditionsleuten mehrmals die Möglichkeit hätte, in die zivilisierte Welt zurückzukehren, bleibt seiner Überzeugung, ein neues Leben gefunden zu haben und für die Werte des Tschuktschenvolkes einzustehen, treu. Selbst als seine Mutter anreist, die aufgrund einer Nachricht des Händlers Carpenter von Johns Aufenthaltsort erfährt, beweist John seine Standhaftigkeit. Erst von widersprüchlichen Gefühlen überwältigt, entschliesst er sich zu bleiben und lässt seine Mutter ohne ihn wieder abreisen.

Der Mond ging auf. Schatten lagen in den Fussspuren und korchen hinter das Packeis. Wenn sich dann am unendlichen Horizont der erste Jäger zeigte, bedeckten die vielfarbigen Bänder des Polarlichts bereits die nördliche Hälfte des sternenübersäten Firmaments. Geheimnisvoll bewegten sich im ewigen Schweigen seine klaren Farben. Ein seltsames Gefühl überkam John in solchen Augenblicken, ihm war, als spiele in unerreichbarer Ferne eine Orgel, deren Töne er zwar nicht hörte, deren bewegte, gigantische Farbensymphonie jedoch erhebende und tiefe Gefühle in ihm auslöste wie einst die Musik.
(S. 81)
Die Fortsetzung von 'Traum im Polarnebel'
J
uri Ryrchëu hat die Geschichte 1971 mit dem Roman 'Polarfeuer' fortgesetzt, der in der deutschen Übersetzung im Jahr 2000 wiederum im Unionsverlag erschien. Obwohl Rytchëu ihn kurz nach 'Traum im Polarnebel' schrieb, war dieser Fortsetzung ein schweres Schicksal beschieden. Einige Stellen mussten aufgrund sowjetischer Zensuren umgeschrieben werden, und der Schluss fiel diesen gänzlich zum Opfer. Im Unionsverlag erschien erstmals die ungekürzte und vollständige Version.
'Traum im Polarnebel' ist im Unionsverlag als Taschenbuch und eBook erhältlich. Eine gebundene Ausgabe ist zur Zeit nicht im Handel.

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