Gelesen im Oktober 2023

Von Mäusen und Menschen
John Steinbeck


Roman
Diana Verlag, 204 Seiten
Ersterscheinung 1937

Nach «Professor Unrat» und «Herr der Fliegen» ist John Steinbecks «Von Mäusen und Menschen» der dritte Klassiker der Weltliteratur, mit dem ich mich hier auf bookstories eingehender beschäftigen möchte. Der Roman erschien 1937 und gilt als ein Meisterwerk amerikanischer Erzählkunst. Drei Jahre später wurde er von Elisabeth Rotten erstmals in die deutsche Sprache übertragen. Und dies, wie ich weiter unten noch erläutern werde, in einer so überzeugenden und authentischen Weise, als wäre die Geschichte nie in einer anderen Sprache entstanden. Steinbeck selbst war in den frühen 1920er-Jahren zwei Jahre lang Wanderarbeiter in Kalifornien gewesen, weshalb die Geschichte "Of Mice And Men", die von den beiden Wanderarbeitern George und Lennie erzählt, einen realen Hintergrund besitzt.


Es gibt zahlreiche Romane und Novellen, die Grundlage für eine gute Verfilmung bieten. So auch dieser Roman, der sogar mehrmals verfilmt und 1992 von und mit Gary Sinise inszeniert wurde, der sowohl Regie führte wie auch den Hauptprotagonisten George verkörperte. Sein zurückgebliebener Wanderkamerad Lennie wurde von John Malkovich eindrücklich dargestellt. «Von Mäusen und Menschen» ist eine anrührende und traurig endende Erzählung, die durchaus zu Tränen rühren kann. Ich hatte mir den Film angeschaut, bevor ich dem Buch begegnet bin. Aus Sicht eines Literaturliebhabers zwar ein No Go, aber es ist auch schon ein Weilchen her. Da Steinbeck seinen beiden Protagonisten jedoch kein äusseres Aussehen verleiht, höchstens Angaben über Statur und Grösse macht, und da mir, wie schon in einem früheren Beitrag erwähnt, ohnehin die Vorstellungskraft fehlt, Figuren bloss aufgrund ihrer äusseren Beschreibung lebendig werden zu lassen, kam es mir gelegen, ihr Aussehen dem Film zu entnehmen. Auf den Lesegenuss hat sich dies nicht als Nachteil erwiesen.
Die Geschichte als solche ist einfach gestrickt. Der Autor soll sie auch bewusst als Schauspiel und Drehbuch konzipiert haben. Sie liest sich sehr fliessend, nicht zuletzt durch die Dialoge, die überwiegen und von denen das nur sechs Kapitel starke Buch lebt. Auf mehr als Dreiviertel der Seiten reden die Personen miteinander, und Steinbeck lässt sie in einem Slang und Dialekt sprechen, der den kalifornischen Erntearbeitern des frühen 20. Jahrhunderts eigen war. Elisabeth Rotten übersetzt in gelungener Weise ins Deutsche, benutzt hierfür zahlreiche Wortkürzungen und Apostrophe. Wer das mag, kommt voll auf seine Kosten, wer nicht, wird das Buch vielleicht nicht zu Ende lesen, da dieser doch besondere Tonfall eine eigene, aber wie ich finde, sehr authentische und lebensechte Atmosphäre schafft.
George blickte ihn scharf an. "Was haste da aus der Tasche genommen?" "Nix is in meiner Tasche", sagte Lennie schlau. "Stimmt. Hast's in der Hand. Was versteckste da in der Hand?" "Nix, gar nix, George. Ehrlich." "Komm, gib's her." Lennie hielt die geschlossene Hand von George weg. "Bloss 'ne Maus, George." "Uh - uh. Bloss 'ne tote Maus, George. Hab se nich getötet. Hab se gefunden. Ehrlich! Tot gefunden." "Gib her", sagte George. "Ach, lass mich se haben, George."  (Seite 15)
So liest sich das Buch nahezu wie ein Theaterstück in sechs Akten, wobei Steinbeck den Beschreibungen des Bühnenbildes nur wenig Raum lässt, dieses aber immer mit wenig Worten bildhaft und treffend zu umreissen weiss. Man könnte sagen, die Erzählpassagen zwischen den Dialogen lesen sich wie Regieanweisungen, die das Schauspiel in den entsprechenden Rahmen setzen. Ein krasser Gegensatz zu Steinbecks Roman «Früchte des Zorns», wo eine Schildkröte über mehrere Seiten die Strasse überquert und er sich Zeit für Naturbeschreibungen nimmt. Hier überwiegen die Dialoge, sie geben den Personen Tiefe und Persönlichkeit, durch ihre Sprache wird ihr Inneres nach Aussen gekehrt, so dass wir als Leser spüren, was gerade in ihnen vorgeht, ohne dies beschrieben zu erhalten. Ein Meisterwerk der Erzählkunst! Hin und wieder musste ich bei der Lektüre an Cormack McCarthy denken, auch einer dieser Autoren, die es verstehen, mithilfe von Dialogen alles auszudrücken.
Viele der Figuren, neben den beiden Hauptprotagonisten George und Lennie auch Nebenfiguren wie der schwarze Crooks oder der alte Candy, haben ihr Kreuz zu tragen. Steinbeck versteht es, mit seinem naturalistisch-melodramatischen Erzählstil Gegensätze zwischen armen Arbeitssuchenden und reichen Arbeitgebern, zwischen Macht und Ohnmacht, Ausbeutung und Wärme, Unterdrückung und Zugehörigkeit, Freiheit und Abhängigkeit aufzuzeigen. «Von Mäusen und Menschen» ist ein bewegendes Zeugnis für Menschen auf der Suche nach Zusammengehörigkeit und Wärme, doch letztlich bleibt jeder für sich allein. Sie träumen vom eigenen Besitz, vom kleinen Stückchen Land auf der Erde, das ihnen gehört und das sie selbst bewirtschaften können, von der Freiheit, nicht mehr von Gutsbesitzern abhängig sein zu müssen. Doch die wenigen Taler, die sie verdienen, werden am Wochenende in der Stadt meist verspielt, versoffen oder im Freudenhaus liegengelassen, um wenigstens etwas Geselligkeit zu erleben und die harte Erntearbeit zu kompensieren.


Vor diesem Hintergrund erzählt "Von Mäusen und Menschen" die Geschichte von George und Lennie, den beiden Wanderarbeitern, die auf einer Farm in Soledad anheuern. George hat Lennies mittlerweile verstorbenen Tante Klara versprochen, für Lennie zu sorgen, denn dieser ist geistig zurückgeblieben und allein nicht lebensfähig. Ihren früheren Arbeitsplatz in Weed mussten die beiden fluchtartig verlassen, da Lennie der versuchten Vergewaltigung beschuldigt wurde; doch Lennie, ein grosser Mann mit Bärenkräften, kann keiner Fliege etwas zuleide tun, unterliegt einfach dem Zwang, weiche Gegenstände streicheln zu müssen, was bei dem Kleid der Frau missgedeutet worden war.


So hat Lennie auch immer wieder tote Mäuse in der Hosentasche, deren Fell er streicheln kann. Und er freut sich auf die Versorgung von Kaninchen, die George ihm versprochen hat, wenn sie denn einmal ein eigenes Gütchen besitzen. Doch George ist sich bewusst, dass dieser Traum nie in Erfüllung gehen wird, solange sie aufgrund von Lennies Schwachsinnigkeit immer wieder in ungewollte Schwierigkeiten kommen und die Arbeit nicht behalten können. Denn einmal aufgekeimt, kann Lennie seine Triebe nicht unterdrücken, geschweige denn seine Kraft im Zaun halten, so dass einer Maus oder einem kleinen Hundebaby mit einem ungeschickten Handgriff schnell das Leben ausgehaucht ist.

"Se kommen und se gehn wieder und tippeln weiter. Und verflixt jeder von ihnen scheint 'n Stückchen Land im Kopf zu ha'm. Und keiner von den gottverdammten Kerlen erreicht's je. 's is wie mit 'm Himmel. Jeder wünscht sich 'n kleines Stückchen Land. Hab hier draussen viele Bücher gelesen. 's kommt keiner nich in 'n Himmel, und keiner kriegt sein Stück Land nich. 's steckt ihnen bloss im Kopf. Reden die ganze Zeit davon, aber 's is bloss im Kopf drin."  (Seite 142/143)

Und George ist im Zwiespalt, denn einerseits ist Lennie ihm eine Last, und andererseits haben die beiden sich selbst, wandern nicht allein, wie die meisten ihrer Sorte, und leben zumindest dieses bisschen Zusammengehörigkeit, was die wenigsten Wanderarbeiter, die auf Farmen anheuern, von sich behaupten können. Immer wieder gibt Lennie George Grund zur Besorgnis und Unmut, doch wenn George ihm in seiner Wut mitteilt, dass er ihn am liebsten zum Teufel jagen würde, dann bittet Lennie ihn, diese Geschichte immer wieder zu erzählen, denn für Lennie ist es nichts weiter als eine Geschichte. 


Auf der Farm in Soledad, auf der sie anheuern, lernen sie Candy kennen, einen alten Arbeiter, dem eine Hand fehlt, der aber ein stolzes Sümmchen zusammengespart hat, und als dieser von der Absicht der beiden hört, eine eigene Farm zu kaufen, möchte er auch mit von der Partie sein, und die Erfüllung ihres Traums scheint näher als je zuvor, da er sein Erspartes zur Verfügung stellen würde. Gefährlich scheint ihnen jedoch Curley zu werden, der Sohn des Farmbesitzers, der seine Macht gerne ausspielt, und dessen unglückliche Frau (im Buch immer nur Curleys Frau genannt) sich gerne mit den Arbeitern einlässt und deshalb bei allen verhasst ist, da sie ihnen damit nur Schwierigkeiten bereitet.


Bei einer Begegnung mit Lennie kommt es dann auch zum katastrophalen Zwischenfall. Ahnungslos lässt sie ihn ihr weiches Haar streicheln, aber Lennie kann nicht mehr loslassen, bis sie sich zu wehren beginnt und er ihr im Affekt das Genick bricht. Dieser flüchtet in der Folge, versteckt sich dort, wo George ihn geheissen hat, sich hinzubegeben, falls wieder Schwierigkeiten drohen. Und der eifersüchtige, von Lennie bereits an der Hand verletzte Curley macht sich mit seinen Arbeitern auf die Suche nach ihm, um ihn zur Strecke zu bringen. Auch George ist, wenn auch widerwillig, mit von der Partie. Er will vor den anderen dort sein, um seinem Kameraden die bevorstehenden Qualen einer Lynchjustiz zu ersparen. Der Arbeiter Slim, der Georges Bürde schon bei der ersten Begegnung erkannt hat, und dessen Figur von Steinbeck übrigens in einer paradehaften Darstellung bewussten Menschseins eingeführt wird, nimmt sich George nach der Hinrichtung seines Freundes an. Sie verlassen den Tatort ziemlich schnell.

Es lag ein Ernst über seinen Manieren, und eine so tiefe Ruhe, dass alles Geschwätz aufhörte, wenn er sprach. Seine Autorität war so gross, dass sein Wort über jeden Gegenstand als gültig hingenommen wurde, sei es Politik oder Liebe. Sein scharfgeschnittenes Gesicht war jenseits von jung oder alt. Er konnte genau so gut fünfundreissig wie fünfzig sein. Sein Ohr vernahm mehr als man ihm sagte, und in seiner langsamen Redeweise schwang ein Unterton mit, nicht von Denken, aber von Verstehen aus einem Urgrund jenseits des Denkens.  (Seite 68/69)
Die beiden Hauptprotagonisten wachsen einem ans Herz, besonders der schwachsinnige Lennie, und wenn der Schluss der Geschichte auch schmerzt, so scheint er doch unumgänglich und vorhersehbar. Steinbeck inszeniert mit «Mäusen und Menschen» ein Melodrama ohne Dramatik und Larmoyanz, naturalistisch und subtil, mitten ins Herz treffend.


Das Buch ist heute im Deutschen Taschenbuch Verlag als Taschenbuchausgabe erhältlich sowie im Osterworld Audio Verlag als Hörbuch. Von dtv ist auch eine Grossdruckausgabe auf dem Markt. Mein gebundenes Exemplar des Diana Verlags aus dem Jahr 1987 weist ebenfalls ein eher grösseres Schriftbild auf, was für meine Augen sehr angenehm zu lesen ist. Fast etwas nostalgisch muten die teilweise etwas holprig gesetzten Lettern an. Sie erinnern an alte Buchdruckzeiten.


Weitere Werke von John Steinbeck