Rezension vom Januar 2024
Roman
Originaltitel: Io e te
Erste Buchausgabe 2010
Gelesene Ausgabe: Piper Verlag
Auflage 2014
146 Seiten
Spannung ohne typischen Spannungsbogen
'Du und Ich' ist der zweite Roman von Niccolò Ammaniti, den ich hier auf meinem Bücherblog bespreche. Vor vielen Jahren hatte ich das Buch schon einmal gelesen, und auch jetzt entwickelt sich bei der Lektüre wieder ein Sog, der mich bis zum Ende des Buches zieht. Schon bei 'Die Herren des Hügels' konnte ich diese magnetisierende Wirkung von Ammanitis Worten beobachten, die einen umblättern lässt wie bei einem Pageturner aus der Unterhaltungsliteratur. Aber Ammaniti will nicht unterhalten. Seine Geschichten haben Tiefe, transportieren Botschaften und stimmen nachdenklich. Eine subtile Spannung begleitet durch die Seiten. Man möchte wissen, wie es weitergeht, und dies erreicht Ammaniti ohne den Aufbau eines typischen Spannungsbogens, allein mit der Art seines Erzählens. Auf der Rückseite meiner gebundenen Ausgabe des Piper Verlags wird die Corriere della Sera zitiert: "Ammaniti ist so gut, dass es eigentlich nicht zu ertragen ist."
Es wird gar nie richtig hell
Dem Buch gehen als Vorwort zwei Zitate voraus. Eines ist von Francis Scott Fitzgerald, einem amerikanischen Schriftsteller aus dem letzten Jahrhundert: "In a real dark night of the soul it is always three o'clock in the morning." Ich hab mir vor der Lektüre einige Gedanken über diese Worte gemacht, doch erst am Ende des Buches wird mir deren Bedeutung richtig verständlich. Um nichts vorwegzunehmen, kann ich an dieser Stelle nicht mehr dazu schreiben.
Vierzehnjähriger Ich-Erzähler
Und wie schon in 'Die Herren des Hügels' ist es wiederum ein Kind, oder vielmehr ein Pubertierender, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Und wieder gelingt es Ammaniti, die sprachliche Ausdrucksweise dem Alter seines Protagonisten anzupassen, innere Prozesse und Gedankengänge authentisch darzustellen. Diesmal ist es der vierzehnjährige Lorenzo aus Rom, von dem die Geschichte handelt. Zehn Jahre später erinnert er sich als Ich-Erzähler an die Geschehnisse, denn zu Beginn des Buches sitzt er an einem Tisch in einem Hotel und entfaltet nachdenklich einen handgeschriebenen Brief seiner Halbschwester. Den Grund seines Aufenthalts in Cividale del Friuli will er der fragenden Kellnerin nicht mitteilen. Doch scheint ihn etwas zu bedrücken.
Wie einer, der auf den Zug nach Hause wartet
Wir erfahren von Lorenzos Schulzeit, an die er keine guten Erinnerungen hat, an seine pubertäre Phase, die ihn mit dreizehn und vierzehn haben wachsen lassen, als sei er gedüngt worden. Lorenzo ist kein extravertierter Mensch, im Gegenteil. Seinen Eltern bereitet er Sorgen, weil er nicht so ist wie die anderen seines Alters. Er grenzt sich ab, hat keine Freunde, kommt nicht aus sich heraus. Verdrängte Emotionen enden in unkontrollierten Wutausbrüchen. Der Psychiater, von den Eltern nur Professor genannt, will bei Lorenzo eine narzisstische Störung erkannt haben; die Lehrerin sagt, er wirke wie einer, der am Bahnhof steht und auf den Zug nach Hause wartet. Er störe niemanden, aber wenn er geärgert wird, wirft er mit allem, was er zu fassen bekommt. Dies mache ihr Angst.
Die Fliege im Wespenkleid
Lorenzo sieht das anders. Er will gar nicht sein wie die anderen. Die anderen, das sind alle ausserhalb seiner Familie, ausserhalb seines emotionalen Bewusstseinsfeldes. Lorenzo ist nicht der, der wie die anderen Sprüche klopft und Witze in der Öffentlichkeit zu erzählen weiss. Dafür muss man sehr selbstbewusst sein, sagt er. Erst mit drei hat er zu sprechen angefangen, Reden ist nicht seine Stärke. Warum muss man etwas aussprechen, wenn man es schon gedacht hat? Irgendwo in den Tropen lebt eine Fliege, die Wespen imitiert. Von allen Lebewesen wird sie gefürchtet. Lorenzo weiss also, was zu tun ist. Die Gefährlichsten imitieren. Sich als Fliege ein Wespenkleid überstreifen, alle täuschen und sich so in die Wespengesellschaft integrieren.
Andersartigkeit
Und da er merkt, dass er seinen Eltern mit seinem Einzelgängerverhalten Sorge bereitet, entschliesst er sich, so zu tun, als habe er Freunde, täuscht Beliebtheit vor, verhält sich in der Schule so wie die anderen, kleidet sich so wie die anderen, klopft Sprüche wie die anderen, und je mehr er vorgibt, wie die anderen zu sein, desto deutlicher nimmt er sich in seiner Andersartigkeit wahr.
Ein cleveres Täuschungsmanöver ...
Seinen Eltern erklärt Lorenzo, von Schulkollegen zum Skiurlaub nach Cortina eingeladen worden zu sein. Die Mama muss weinen, so freut sie sich für ihren Sohn. Endlich hat er Anschluss gefunden. In Wirklichkeit versteckt er sich eine Woche lang im Keller des Palazzos seiner Eltern, wo noch all die Möbel und Utensilien der alten Contessa, der Vorbesitzerin der Elternwohnung, eingestellt sind, so dass Lorenzo es sich richtig bequem machen kann. Mit Lebensmitteln im Rucksack richtet er sich dort ein, auch an die Bräunungscreme hat er gedacht. Damit sein Täuschungsmanöver überhaupt funktioniert, darf seine Mama ihn nur bis kurz vor den verabredeten Ort in der Stadt bringen, von wo zum Skiurlaub gefahren werden soll. Die letzte Strecke will Lorenzo allein weiter zu seinen wartenden Schulkollegen, schliesslich werden die anderen ja auch nicht mehr von der Mutter hingebracht.
...wird zur ausgeklügelten Lüge
Mit den Skiern unter dem Arm kehrt Lorenzo mit der Strassenbahn zum Palazzo zurück und muss einen passenden Moment abwarten, um in den Keller zu gelangen, denn der Portier, den Lorenzo nur den Certopithecus nennt, weil er wie eine Meerkatze aussieht, fegt gerade Blätter auf dem Hof zusammen. Mit einem Anruf lockt Lorenzo ihn in dessen Wohnung im Souterrain. Im Keller eingerichtet, empfängt er unter dem Kellerfenster knapp noch ein Signal für sein Handy, mit dem er seine Mutter über den Skiurlaub auf dem Laufenden halten muss. Die Zeit vertreibt er sich mit Computerspielen auf dem Fernsehbildschirm der alten Contessa, mit Lesen, und mit dem Verdrängen schuldbeladener Gedanken darüber, warum er diese Lüge so weit getrieben hat.
Ungemütliche Herausforderungen
Doch wenn man die Herausforderungen des Lebens von sich fernhält, dann tauchen sie eben von ganz allein auf. Lorenzo kann mit solchen Situationen nur schwer umgehen. Als seine Mutter einst bei einem Verkehrszwischenfall von dem anderen Automobilisten angepöbelt und gestossen wird, fällt er auf dem Beifahrersitz sogar in Ohnmacht. Zwar spürt Lorenzo kochende Emotionen in sich hochsteigen, aber zu mehr als dem Ballen der Fäuste führt sein Wutanfall nicht. Wenn es brenzlig wird, ist er wie paralysiert. Und nun, im warmen, muffigen Keller sich in Sicherheit wiegend, klopft plötzlich seine Halbschwester Olivia an das Kellerfenster.