September 2023

Vor dem Morgen
Jørn Riel


Roman
Unionsverlag, 186 Seiten
Ersterscheinung 1975



Ich hatte das Buch kürzlich im Gebrauchtbuchladen entdeckt, als ich den Sektor mit den Autoren aus den nördlichen Ländern durchstöberte. Jørn Riel ist ein dänischer Autor, oder vielmehr, war, denn er verstarb im August 2023 im Alter von 92 Jahren in Malaysia. Zu Beginn der Fünfziger Jahre beteiligte er sich an einer Expedition nach Nordostgrönland, um meteorologische Untersuchungen durchzuführen. Insgesamt verbrachte er sechzehn Jahre seines Lebens in Grönland. Als er 1951 mit einem Inuk als Begleiter im hohen Norden überwinterte, begann er zum Zeitvertreib Geschichten zu schreiben und avancierte so zum Schriftsteller. Die meisten seiner Bücher spielen in der Arktis, ihnen liegen Sagen und Überlieferungen der Inuit zugrunde. Oft humorvoll, witzig und spassig sollen seine Geschichten sein, doch mit "Vor dem Morgen" ist ihm eine ernste und beklemmende Darstellung an der Nordostküste Grönlands gelungen.



Mir war der Autor bis zu diesem Buch nicht bekannt. Das ansprechende Buchcover und der vielverprechende Titel fielen mir ins Auge, weshalb ich «Vor dem Morgen» dann auch für meine Lektüre aussuchte – und weil mich das letzte Buch ohnehin schon in den hohen Norden versetzt hatte. Viele Schilderungen dieser Ureinwohner Grönlands erinnern mich dann auch an Rytchëus Geschichte im Polareis Nordostsibiriens, doch kann Riel mich mit "Vor dem Morgen" nicht so begeistern, wie Rytchëu das mit "Traum im Polarnebel" gelungen ist. Ich fragte mich zuweilen sogar, welche Absicht oder Motivation wohl hinter dieser Erzählung stecken mag, denn der Schluss kam für mich etwas überraschend. Erst das Nachwort des Autors am Ende des Buchs konnte mich aufklären. Ich will es an dieser Stelle aber nicht vorwegnehmen, lediglich erwähnen, dass die Geschichte nicht in der Gegenwart spielt, sondern ungefähr vor zweihundert Jahren.
Ninioq, die Inuit-Grossmutter, deren Ende naht und die früh morgens vor dem Aufstehen eine Art Schwermut überfällt, lässt ihren Gedanken freien Lauf, während sie sich nach zwei Wintern reichlicher Nahrungsversorgung mit den wenigen Mitgliedern ihres Stammes auf die Verschiebung in das Sommerrevier vorbereitet. Indem sie ihr Leben Revue passieren lässt, erfahren wir einiges über ihre Vergangenheit als Mutter von fünf Kindern, die mit Ausnahme ihres jüngsten Sohnes Katingak, der mittlerweile selbst Vater ist, alle entweder den Hungertod erlitten haben oder sonstwie umgekommen sind. Als die Stammesälteste Kongujuk stirbt, fühlt Ninioq sich gewissermassen als diejenige, die als nächste dem ewigen Leben begegnen wird.

Wie sie so sass und die unveränderliche Natur betrachtete, verstand Ninioq kaum noch die Sorge und Unruhe, von denen sie oft erfasst wurde. Alles war doch beständig, sah sie hier. So wie sich ihr das Land jetzt darbot, hatte es für alle Geschlechter ausgesehen. Die Welt war unverändert, und wenn der einzelne Mensch auch vergänglich war wie Tier und Pflanze, so waren doch die Geschlechter genauso beständig wie die Berge hinter den Zelten, auf denen Büschel von Veilchen wie eh und je rosa und rot zwischen Krähenbeeren und Heidelbeerkraut hervorleuchteten. (S. 43)

Auch über die Erlebnisse und familiären Verhältnisse anderer Stammesmitglieder denkt Ninioq ausgiebig nach und bringt dem Leser so die rauhen Sitten, den harten Überlebenskampf der Inuit und ihr von Sagen, Elementargeistern und mythischen Erfahrungen geprägtes Leben nahe. Und sie sinniert über den Sinn des Lebens, den sie in der schlichten Fortpflanzung des Menschengeschlechts zu erkennen glaubt und im Leben schlechthin, und die Tatsache ängstigt sie, dass in der Vergangenheit viele Inuit-Stämme mit den Rentieren landeinwärts verschwunden sind und ihr kleiner Stamm der letzte sein könnte. Diese Innenschau Ninioqs ist eindrücklich, erbarmungslos, lebensnah und unsentimental skizziert. Riel scheint aufgrund seines jahrelangen Grönlandaufenthalts zu wissen, wovon er redet.

Erst als sich die Stille auf beide senkte, merkte sie, dass der Junge eingeschlafen war. Diese wohltuende Stille, die sie lange in ihrem Innern gehört hatte. Diese vertraute Ruhe, die ihr den Weg zu sich selbst besser als viele Gedanken wies, die Lautlosigkeit, die plötzlich wie eine Mauer um sie herum stand, ihr aber auch die Unendlichkeit der Welt erschloss. Es war die Stille des kalten, blauen Himmels, der leuchtenden Wintereinsamkeit und der hohen Berge. Diese Stille - sie empfand sie als Wohnstätte ihrer Seele, als ihr eigentliches Heim. Ihr ganzes Leben hatte sie sie begleitet und würde in ihr sein, wenn sie starb. (S. 123)
Etwas unglücklich aufgebaut erscheint mir nur der Einstieg in die Geschichte. Ich hatte Mühe, mich einzulesen, da der erste Satz zwischen Anführungs- und Schlusszeichen erst nach über fünfzig Seiten kommt. Auch für einen genüsslichen Leser wunderschöner Beschreibungen ist das etwas lang. Dialoge pflegen aufzulockern, geben dem Autor die Möglichkeit, dem Leser Charaktere näherzubringen, was hier im ersten Drittel fehlt. Ninioq bleibt für mich bis zu dem Moment, als wir uns mit der Handlung sozusagen konstant in der Gegenwart befinden und sie mit Manik, ihrem Enkel, auf die Fleischinsel übersetzt, etwas blass. Ihre Schilderungen aus der Vergangenheit bringen sie mir nicht näher, die Dialoge und Interaktionen mit anderen Personen fehlen mir im ersten Drittel. Dann wird das Buch aber wirklich gut, und ich bereue es nicht, es nicht unbeendet wieder ins Regal gestellt zu haben.


Den Beginn des Sommers verbringt Ninioq also in Gesellschaft ihrer Sippe in der Sommersiedlung, und weil es Tradition ist, dass sich jemand auf einer sogenannten Fleischinsel um die Verarbeitung der erlegten Tiere kümmert und den Fleischvorrat für den Winter anlegt und haltbar macht, werden sie und ihr siebenjähriger Enkel Manik, der aus freien Stücken mitmöchte, in Kajaks von den Männern auf die kleine Insel Reqe gebracht, wo sie den Sommer mit der Fleischverarbeitung verbringen und vor Anbruch des Herbstes von den Jägern wieder abgeholt werden sollen.


Aber es kommt anders. Die Tage werden kürzer, vergehen mit vergeblichem Warten, bis Ninioq und Manik mit dem Frauenboot selbst zurück zur Sommersiedlung übersetzen. Dort angekommen, zeigt sich ihnen ein Bild des Schreckens. Alle Stammesmitglieder liegen tot in ihren Zelten, umgebracht von Fremden. Der alten Frau und ihrem Enkel bleibt nichts anderes übrig, als all das Material mitzunehmen, was im Frauenboot Platz hat, und wieder zur kleinen Insel zurückzukehren, um sich in aller Einsamkeit auf den kommenden Winter vorzubereiten.

Die Frau erzählte ihr, dass die Nadel ein Geschenk eines dieser menschenähnlichen Geister gewesen sei, der ihr die Freundlichkeit erwiesen habe, ihr bei mehreren Gelegenheiten beizuliegen. Ninioq und auch die Frau hatten sich darüber amüsiert, denn wie konnte man sich von einer so wertvollen Nadel trennen, nur weil man mit einer armseligen Frau geschlafen hatte. Oft hatte ich Ninioq in ihrer Jugend gewünscht, dass das von weissen Fellen bewegte Boot zur ihrer Siedlung käme. Dann würde sie sich auch eine Nadel besorgen, indem sie bei einem dieser Fremden lag.  
(S. 62)

Wie schon bei Rytchëus Erzählungen über die Tschuktschen in Nordostsibirien begegnen wir auch hier mit den Inuit in Grönland einer Kultur, die stark von archaischem Schamanismus geprägt ist. Elementargeister, äussere Kräfte und Gottheiten bestimmen das Weltbild der arktischen Völker. Für die Inuit ruhen Erde und Meer auf Pfeilern, und die Toten finden ihren Frieden in der Unterwelt, wohingegen im kalten und tristen Himmel, der von einem grossen Berg getragen wird, nur die Hängeköpfe und humorlosen Menschen enden und mit Robbenköpfen Ball spielen, wodurch die Nordlichter entstehen. Inuit heisst übersetzt "Mensch". Die Inuit sind also die Menschen, wie dies bereits die Tschuktschen von sich behaupten, während alle anderen Völker ausserhalb ihres Lebensbereichs Geister oder bestenfalls menschenähnliche Wesen sind. Was mir gefällt, ist ihre Naturverbundenheit, das Empfinden, Teil von ihr zu sein, was der zivilisierten Welt abhanden gekommen ist.


Etwas befremdlich hingegen wirkt auf mich die Stellung der Frau in der Inuit-Gesellschaft. Dass ein Mann mehr als eine Ehefrau haben kann, ist in vielen Kulturen Gang und Gäbe, dass die Frau von ihrem Mann aber als Versorger spricht oder sie es als etwas grundsätzlich Wertvolles und Emporhebendes empfindet, wenn sie einem Mann beiliegen darf, oder wenn der begehrende Junggeselle das Mädchen aus dem Familienzelt raubt, an Tagen, an denen alle Männer auf Fang sind, und er sie dann mit sich hoch in den Norden mitnimmt, um sie sich eigen zu machen, dann mutet das etwas fremd an. Aber eben, andere Länder andere Sitten.

Das Buch mit insgesamt zwölf Kapiteln ist in zwei Teile gegliedert. Wie bereits erwähnt, musste ich mir das erste Drittel eher erarbeiten, spielte sogar mit dem Gedanken, das Buch wieder wegzulegen, doch bin ich froh, es nicht getan zu haben. Alles in allem kann ich die Lektüre empfehlen. Eine fremde Kultur wie die der Inuit kennenzulernen ist eine Bereicherung, obwohl verschiedene Schilderungen nicht immer in harmonischem Kontext zur Handlung stehen, wie ich finde. Während Ninioq im ersten Drittel durch langatmige Erzählungen eher blass bleibt, erhält sie und auch ihr Enkel Manik durch ein berührendes Zusammensein in der zweiten Hälfte des Buches jene Tiefe, die dem Leser das Aufbringen von Empathie ermöglicht. Da spielt es keine Rolle mehr, wenn wir einer fremden Kultur im Packeis Grönlands beiwohnen. Existenzangst, Verzweiflung und Liebe fühlen sich bei allen Menschen gleich an.

Sie dachte oft daran, dass der Junge und sie die letzten Menschen sein könnten, ein Gedanke, den sie entsetzt zu verscheuchen versuchte. In solchen Momenten kam es vor, dass sie Manik über die Lampe hinweg berührte. Dann empfand sie wieder einen unbändigen Drang zu leben, bei dem Jungen zu bleiben. Er durfte nicht der Letzte sein. (S. 161/162)
Das Buch ist im Unionsverlag als Taschenbuch und eBook und im SagaEgmont Verlag als Hörbuch erhältlich. Eine gebundene Ausgabe ist nicht mehr im Handel.

2 Kommentare


Michael Mittelhaus  -  24. Februar 2024 um 12:38 Uhr

Lieber Michael, ich bin begeistert, das Du Jørn Riel rezensierst, und dann noch klug auf die Werke von Juri Rytchëu Bezug nimmst. Beide hochinteressant und beide vom Union Verlag. Wobei ich denke, dass man manches noch antiquarisch bekommen kann, z.B. bei Bookloker. Meine Riel Trilogie: https://mittelhaus.com/2022/11/20/jorn-riel-sangen-for-livet/ hab ich im skandinavischen Buchladen in Berlin, dem Pankebuch gefunden. Schön, dass man bei Dir Texte zu zwei so wichtigen, aber eher unbekannten Autoren findet.
 

bookstories - 28. Februar 2024 um 11:14 Uhr

Lieber Michael, herzlichen Dank für Deinen Kommentar, den ersten auf meinem Bücherblog, worauf ich besonders stolz bin. Danke auch für deine wertvolle Ergänzung zum dänischen Autor Jørn Riel und den Link zu deiner Riel-Trilogie, die ich natürlich schon mit Interesse gelesen habe. Erstaunlich, wieviele Bilder dabei in meinen Gedanken wieder hochkommen, die beim Lesen von "Vor dem Morgen" oder auch "Traum im Polarnebel" entstanden sind. Literarisch in die Welt der arktischen Völker einzutauchen, ist unbedingt lohnenswert.

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