Auch über die Erlebnisse und familiären Verhältnisse anderer Stammesmitglieder denkt Ninioq ausgiebig nach und bringt dem Leser so die rauhen Sitten, den harten Überlebenskampf der Inuit und ihr von Sagen, Elementargeistern und mythischen Erfahrungen geprägtes Leben nahe. Und sie sinniert über den Sinn des Lebens, den sie in der schlichten Fortpflanzung des Menschengeschlechts zu erkennen glaubt und im Leben schlechthin, und die Tatsache ängstigt sie, dass in der Vergangenheit viele Inuit-Stämme mit den Rentieren landeinwärts verschwunden sind und ihr kleiner Stamm der letzte sein könnte. Diese Innenschau Ninioqs ist eindrücklich, erbarmungslos, lebensnah und unsentimental skizziert. Riel weiss aufgrund seines jahrelangen Grönlandaufenthalts, wovon er redet.
Wie schon bei Rytchëus Erzählungen über die Tschuktschen in Nordostsibirien begegnen wir auch hier mit den Inuit in Grönland einer Kultur, die stark von archaischem Schamanismus geprägt ist. Elementargeister, äussere Kräfte und Gottheiten bestimmen das Weltbild der arktischen Völker. Für die Inuit ruhen Erde und Meer auf Pfeilern, und die Toten finden ihren Frieden in der Unterwelt, wohingegen im kalten und tristen Himmel, der von einem grossen Berg getragen wird, nur die Hängeköpfe und humorlosen Menschen enden und mit Robbenköpfen Ball spielen, wodurch die Nordlichter entstehen. Inuit heisst übersetzt "Mensch". Die Inuit sind also die Menschen, wie dies bereits die Tschuktschen von sich behaupten, während alle anderen Völker ausserhalb ihres Lebensbereichs Geister oder bestenfalls menschenähnliche Wesen sind. Was mir gefällt, ist ihre Naturverbundenheit, das Empfinden, Teil von ihr zu sein, was der zivilisierten Welt abhanden gekommen ist.
Etwas befremdlich hingegen wirkt auf mich die Stellung der Frau in der Inuit-Gesellschaft. Dass ein Mann mehr als eine Ehefrau haben kann, ist in vielen Kulturen Gang und Gäbe, dass die Frau von ihrem Mann aber als Versorger spricht oder sie es als etwas grundsätzlich Wertvolles und Emporhebendes empfindet, wenn sie einem Mann beiliegen darf, oder wenn der begehrende Junggeselle das Mädchen aus dem Familienzelt raubt, an Tagen, an denen alle Männer auf Fang sind, und er sie dann mit sich hoch in den Norden mitnimmt, um sie sich eigen zu machen, dann mutet das schon etwas fremd an.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert und hat zwölf Kapitel. Wie bereits erwähnt, musste ich mir das erste Drittel eher erarbeiten, spielte sogar mit dem Gedanken, das Buch wieder wegzulegen, doch bin ich froh, es nicht getan zu haben. Alles in allem kann ich die Lektüre empfehlen. Eine fremde Kultur wie die der Inuit kennenzulernen ist eine Bereicherung, obwohl verschiedene Schilderungen nicht immer in harmonischem Kontext zur Handlung stehen, wie ich finde. Während Ninioq im ersten Drittel durch langatmige Erzählungen eher blass bleibt, erhält sie und auch ihr Enkel Manik durch ein berührendes Zusammensein in der zweiten Hälfte des Buches jene Tiefe, die dem Leser das Aufbringen von Empathie ermöglicht. Da spielt es keine Rolle mehr, wenn wir einer fremden Kultur im Packeis Grönlands beiwohnen. Existenzangst, Verzweiflung und Liebe fühlen sich bei allen Menschen gleich an.